Wann habe ich zuletzt einen Roman so geliebt, obwohl seine Schwächen deutlich sind?

„Kein Plätschern, kein Rauschen. Die Sonne noch schwach, aber schon da. Der Anblick greift Isobel immer wieder unter die Achseln und hebt sie sanft an, als wöge sie gar nichts mehr. […] Das wird heute einer dieser seltenen Tage, an denen die Temperatur von Luft und Körper sich angleichen. Das hat, findet Isobel, eine radikale Freundlichkeit, eine ganz entschiedene Milde, die jede Stunde rundet. Wenn es trübe und verregnete Tage gibt, an denen man ‚keinen Hund vor die Tür jagt‘, dann muss es auch Tage wie diesen geben, an denen man ‚Vögeln die Freiheit gibt‘.“

Es ist ein Tag wie jeder andere. In Ottersweiler, einer Kleinstadt irgendwo in der Pfalz, öffnet das Freibad – nein, es hebt sich der Vorhang vor einer Bühne, auf der wir 234 Seiten lang das Schauspiel, das man Leben nennt, mitverfolgen dürfen:

Da ist die Kindergruppe, die heute das Seepferdchen machen soll, und die pensionierte Lehrerin Isobel, die mit leiser Verwunderung merkt, dass sie immer häufiger aus dem Hier und Jetzt fällt. Zwei Liebende, vor Jahren getrennt durch eine Entscheidung, die falsch und doch genau richtig war, werden sich auf dem Boden eines Beckens wiederbegegnen, während an anderer Stelle Gefühle konkret werden, die schon viel zu lang weggekopfschüttelt wurden. Es werde Sprungtürme bestiegen, Pommes gegessen, eine Biene sticht und, und, und …

SEEMANN VOM SIEBENER ist ein großes Glück: Ein Romane, der mich so beglückt zurückgelassen hat, dass ich nicht wusste, ob ich ihn mit ein paar Tränen oder einem Gin Tonic feiern sollte. Arno Frank erzählt von Figuren, die kein Interesse daran zeigen, uns Lesenden ans Herz zu wachsen, es aber natürlich tun auf ihre erfahrungsvernarbte Art. Der Autor erzählt vom Umgang mit Trauer – um andere und die, die man für sich selbst empfindet –, von Erinnerungen, die manchmal weh tun, und Hoffnung in zarten Schattierungen.

Obwohl es viele Jahre her ist, dass ich Franks autofiktionalen Roman SO, UND JETZT KOMMST DU gelesen habe, ist mir immer noch diese kleine, große Szene in Erinnerung, in der sich die Eltern des Protagonisten begegnen – und diese Intensität des Augenblicks lässt auch das neue Buch vibrieren. Wenn ein Ausflug in magischen Realismus ein Tagtraum sein kann oder das langsame Abtauchen in das Vergessen, wenn ein erleichtertes Kopfschütteln fatale Folgen hat, wenn – denn die Geschichte hat auch Humor – ein Papagei Dinge plappert, die er nie hätte hören sollen und sich schließlich bzw. plötzlich alle Blicke auf einen Sprungturm richten (der, das sei auch noch erwähnt, gar nicht sieben Meter hoch ist, sondern siebenkommafünf), dann ist das immer wieder eins: großes Kino!

Warum dieses Buch es nicht auf die Auswahlliste für den deutschen Buchpreis geschafft hat, ist mir schleierhaft … und doch auch nicht: Ob es wirklich noch den erhobenen Zeigefinger in Form eines kleinen, traurigen, begabten Jungen gebraucht hätte oder den Klosterfrau Melissengeist, um die stumme Verzweiflung einer Figur zu charakterisieren? An anderer Stelle las ich außerdem Kritik an der Ausgestaltung einer Teenagerin (zumal deren Umfeld etwas zu betont „Unter jedem Dach ein Ach“ sozialkritisierend vor sich hin klischeesiert). Es gibt außerdem Passagen, in denen die literarische Präzision einer Umgangssprachlichkeit weicht. Und ob sich seit der Erfindung des Internets noch immer Geld mit Telefonsex verdienen lässt, sei dahingestellt.

Aber ist das für mich als Leser von geringem Verstand ausschlaggebend? Nö. Denn Arno Frank beherrscht die Kunst, das große, detaillierte Bild zu malen, bei dem aus lauter Momentaufnahmen ein stimmiges Ganzes wird, obwohl – oder gerade weil? – vieles nicht auserzählt wird. SEEMANN VOM SIEBENER ist flüchtig wie das Streicheln von Sonne auf dem Gesicht, der Duft von Pommes und Chlor und das kostbare Gefühl, ganz bei sich zu sein … und darum ein kraftvolles Buch, das man nicht verpassen sollte. Applaus, Applaus, Applaus!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Arno Frank: SEEMANN VOM SIEBENER. Tropen Verlag, 2023