Nach dem großen Erfolg der Kopenhagen-Trilogie geht es nun weiter mit der Wiederentdeckung von Tove Ditlevsen
„Helga hatte schon immer, und vollkommen widersinnig, mehr vom Leben verlangt, als es bieten konnte. Menschen wie sie wandeln zwischen uns und unterscheiden sich äußerlich kaum von denen, die instinktiv eine Bilanz ziehen und genau den Platz in der Welt finden, der ihnen gemäß Aussehen, Fähigkeiten und Herkunft zusteht. Hinsichtlich dieser drei Faktoren war Helga bloß durchschnittlich ausgestattet.“
Mit einem Brecht’schen Nihilismus beginnen? Warum nicht. „Natürlich hab ich leider recht | Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht“, donnert Peachum in der DREIGROSCHENOPER: „Wir wären gut – anstatt so roh | Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Daran musste ich denken, während ich die mit BÖSES GLÜCK betitelten Storys der dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen las, die mich zuvor (wie so viele von uns) mit ihrer autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie begeistert hat.
Die 15 Texte, die aus zwei 1952 und 1963 erschienenen Erzählbänden stammen, dürfen vermutlich als Meisterwerke bezeichnet werden – jede von ihnen schafft es auf erstaunlich wenigen Seiten, eine eigene Welt zu umreißen, uns mit oft begnadet guten Einstiegen unmittelbar hinein in die Szenerie zu werfen und erst am Ende, aufgeladen mit Gefühl, aus dem samtigen Klammergriff gleiten zu lassen. Die Übersetzung von Ursel Allenstein macht, wie nicht anders zu erwarten, einen brillanten Eindruck, weil hier kein Satz hakt, kein Wort aus der Reihe tanzt, sondern alles glänzt wie hochpolierter Stahl. Es ist daher ein Fest, 172 Seiten lang in diesen hervorragend komponierten Geschichten versinken zu können … aber es war für mich ein eingeschränktes Vergnügen.
Zwei der Texte kreisen um männliche Figuren, einen Jungen, der in prekärer Situation lebt, und einen Mann, der es nicht vermag, mit seiner Frau und seinem Sohn zu kommunizieren und in seiner Hilflosigkeit ein grauenhaftes Verhalten ihnen gegenüber zeigt. In allen anderen Geschichten stehen Frauenschicksale im Mittelpunkt: Unerfüllte Liebe und Hoffnungen, die Kälte der Menschen, alltägliche Grausamkeiten und das schmerzhafte Zerbrechen an einer Situation, der die Figuren scheinbar hilflos gegenüberstehen. Genau dies ist der Grund, warum ich über die intellektuelle Ebene hinaus nicht warm geworden bin mit diesem Buch – ich empfand die Trost- und Aussichtslosigkeit (vielleicht auch durch die Aneinanderreihung) zunehmend als misogyne Sicht, also nicht auf eine Zeit und ihre Begleiterscheinungen, sondern auf Frauen, und das in einer kratzigen Allgemeingültigkeit; nach jedem dieser Tiefschläge hatte ich wenig Lust, mich von der unbestreitbaren sprachlichen und dramaturgischen Eleganz weitertragen zu lassen.
Ein Opfer von Umständen muss sich nicht automatisch als solches sehen – Ditlevsen scheint aber mit einer Ausnahme kein Interesse daran zu haben, ihren Figuren eine Stärke zu geben, auf die diese (siehe auch das einleitende Zitat) in ihrem Weltbild möglicherweise keinen Anspruch zu haben scheinen. EIN EIGENSINNIGES LEBEN ist, als Ausnahme von der Regel, daher für mich der positive Höhepunkt des schmalen Bandes (und eine Geschichte, die mich nachhallend begeistert).
Dass ich in einem Buch von Tove Ditlevsen wenig Sonnenschein erwarten darf, weiß selbst ein Leser von geringem Verstand – was ich mir aber gewünscht hätte wäre ein Nachwort, in dem wir erfahren, welchen Stellenwert diese Texte im Werk der Autorin haben, ob sie ursprünglich für die beiden Sammelbände geschrieben wurden (oder es sich z.B. um Texte handelt, die für sich stehend in Zeitungen veröffentlicht wurden) und welche Kriterien bei der Zusammenstellung angewandt wurden. Mir hätte es geholfen, mich den Texten auf andere Art zu nähern und (noch) mehr Faszination zu empfinden für den grauverschleierten Blick von Tove Ditlevsen auf die Menschen ihrer Zeit.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Tove Ditlevsen: BÖSES GLÜCK. Aus dem Dänischen von Ursel Allstein. Aufbau Verlag, 20223
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