Dieser Abwärtsspirale kann man mit voyeuristischer Begeisterung folgen – aber sollte man?
„Sie hatte schon früh gelernt, dass es notwendig war, eine gewisse Distanz zu wahren. Ein paar Unwahrheiten aufrechtzuerhalten. Und war es nicht besser, den Leuten zu geben, was sie wollten? Ein Zwiegespräch als reibungslose Transaktion geführt – ein seidenweiches Hin und Her ohne Einbruch der Realität. Fast alle bevorzugten die Geschichte. Alex hatte gelernt, sie zu liefern, hatte gelernt, wie man die Leute in den Bann zog mit einer Version ihrer selbst, erkennbar, aber zehn Stufen höhergedreht, verstärkt zu etwas Besserem. […] Simon hielt Alex für eine echte Person oder echt genug für seine Zwecke. Alex sprach von der Möglichkeit, weiterzustudieren, und diese Andeutung eines bescheidenen Lebens der Selbstverbesserung schien Simon zu beruhigen. Ehrgeizig im mildesten Sinne des Wortes.“
Holly Golighlty, Irma la Douce, die „Pretty Woman“ Vivian und Trallala, der die „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ zum Verhängnis wird: Frauen, die ihre Aufmerksamkeit (und mehr) verkaufen, faszinieren jenseits aller realer Begleitumstände des „ältesten Gewerbes der Welt“: Wenn Schönheit und Verruchtheit, eine subtile Dominanz über Männer und große Verletzlichkeit sich verweben, ist dass der Stoff für gute – manchmal große – Geschichten. Hat die internationale Bestsellerautorin Emma Cline eine solche geschrieben? Als Leser von geringem Verstand muss ich diese Frage womöglich unbeantwortet lassen (und kann nachfolgend Spoiler nicht vermeiden).
In DIE EINLADUNG begegnen wir Alex, so jung, groß und schlank, dass nicht auffällt, dass sie keine klassische Schönheit ist – dadurch aber auch so nah- und austauschbar, dass es Männer leichtfällt, sie sich als unkomplizierten Zeitvertreib vorzustellen. Auf dieser Welle könnte Alex problemlos reiten, doch sie sabotiert ihr Geschäftsmodell: Ein kleinerer, unerlaubter Kreditkarteneinsatz hier, ein größerer Diebstahl dort … und als sie ihrem aktuellen Sugar Daddy durch einen riskanten Flirt vor Augen führt, dass ihre unkomplizierte Unterwürdigkeit nur gespielt ist, lässt Simon sie aus seinem Luxusdomizil entfernen.
So gedankenlos, wie Alex Schmerztabletten einwirft, um den Bruchkanten ihres Lebens die Schärfe zu nehmen, greift sie nun nach einem Strohhalm: Wünscht Simon sich insgeheim, dass sie bei seiner großen Labour-Day-Party auftaucht? Doch, so wird es sein – doch, so MUSS es kommen! Da gibt es nur ein Problem: Wie soll Alex eine Woche in der teuersten Gegend Amerikas überleben? Für die Reichen ist es eine Welt des unbeschwerten Luxus, für ihre Angestellten der Ort, an dem sie Geld verdienen … aber für jemanden, der weder zum einen noch zum anderen ineinandergreifenden Zahnrad gehört, ist es ein raues Pflaster.
In der Auseinandersetzung mit diesem Roman wird oft erwähnt, wie gut Cline die amerikanische Upper Class vorführt, ihre angebliche Oberflächlichkeit und ungeschriebenen Codes, die zielsicherer schneiden als das Skalpell eines Chirurgen. Nun … dafür hatte ich nach unzähligen Romanen und Serien nur ein müdes Lächeln übrig – hat man diese Mechanik nicht längst verstanden?
Was mir dagegen sehr gefällt: Alex ist weder eine sympathische Täterin noch ein Opfer, für das wir Mitgefühl empfinden könnten (oder gar müssten) – und da wir ahnen, dass das Buch nach 317 Seiten kein versöhnliches Ende haben wird, folgen wir ihrer Abwärtsspirale fasziniert, mit voyeuristischer Hingabe … und in meinem Fall zunehmend angespannt. Mehr als einmal hatte ich den Wunsch, Alex zu schütteln, denn die höchst unzuverlässige Erzählerin ist nicht halb so schlau, wie sie uns glauben lassen will. Ihr nervöses, zunehmend manisches Vibrieren übertrug sich von Kapitel zu Kapitel mehr auf mich, was ich als wenig angenehme, aber nachklingende Erfahrung verbuche; gleichzeitig war ich beeindruckt, wie wenig konstruiert das alles auf mich wirkte – bis sich kurz vor Schluss höchst dramatisch zeigt, warum die Autorin immer wieder einfließen lässt, dass es in den Hamptons freilaufende Rehe gibt …
Meiner Meinung nach ist DIE EINLADUNG kein Roman, bei dem es auf das Ende ankommt – wie erwähnt wissen wir von Anfang an, dass es mit Sicherheit nicht zur ersehnten Versöhnung mit Simon kommen wird. Hier ist eindeutig der Weg das Ziel, und wenn das schale Ende piekst und sticht, verdient das bei einem Roman, der aufgrund des vorherigen Erfolgs der Autorin natürlich auf eine massenkonforme Bestsellerplatzierung schielt, Applaus.
Vielen Lesenden scheint das aber nicht zu reichen, sie interpretieren – wohl befeuert durch Äußerungen der Autorin – einen Paukenschlag herbei, den ich so nicht sehe (bzw. der seinen Ausgangspunkt, wenn überhaupt, viel früher haben könnte). Darüber lässt sich streiten. Und auch darüber, ob man diesen Roman gelesen haben muss (dessen Übersetzung von Monika Baark ich eine etwas entschlossenere Redaktion gewünscht hätte). Ich war nach dem Zuklappen bei einem leisen „Hmpf“, das sich inzwischen (auch durch die Erinnerung an grandiose Szenen wie die im Strandclub) zu einem ebenso leisen, aber versöhnten „Ach“ gewandelt hat.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Emma Cline: DIE EINLADUNG. Aus dem Englischen von Monika Baark. Carl Hanser Verlag, 2023
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