Ein Tausendsassa im Wilden Westen: Was kann da schief gehen?

„Håkan sprach scheinbar mit dem Feuer, störte sich aber nicht daran, dass andere zuhörten. Nur der Junge saß. […] Der Himmel war weiterhin nicht vom Boden zu unterscheiden, aber beides war ergraut. […] Mit langen Pausen und bisweilen kaum hörbarer Stimme sprach er bis zum Sonnenaufgang, stets dem Feuer zugewandt, als müssten seine Worte verbrannt werden, sobald sie ihm über die Lippen kamen. Manchmal aber schien er sich an den Jungen zu wenden.“

Nachdem TREUE von Hernan Diaz zu einem meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 wurde, habe ich mir sein Debüt bestellt – und bin bedingt begeistert von IN DER FERNE. Da ich nicht umhin komme, auf Details einzugehen, können die folgenden Zeilen über diesen archaischen Coming-of-Age-Roman, der eher ein beständiges „Coming of Pain“ ist, Spoiler enthalten.

Was kostet die Freiheit? Im Falle der schwedischen Bauernsöhne Håkan und Linus Söderström ist es Mitte des 19. Jahrhunderts ein Fohlen, das von ihrem Vater im Wald vor dem Gutsbesitzer versteckt aufgezogen und dann für zwei Überfahrten nach Amerika verkauft wird. Beim Zwischenstopp in England verlieren sich die Brüder aus den Augen; so landet Håkan nicht auf dem Schiff, dass ihn und Linus nach New York bringen soll, sondern wird in San Francisco das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und der noch unbegrenzteren Schrecken – betreten. Sein einziges Ziel: Er will so schnell wie möglich auf die andere Seite des Landes kommen, um Linus wiederzutreffen. Aber daraus wird, wie man sich denken kann, nichts.

Auf 303 enggesetzten Seiten entfaltet sich, je nach Lesart, eine Abenteuergeschichte und ein Panoptikums des Schreckens, das viele Lesende begeistern soll (und wird) und dem Autor seine erste Pulitzer-Nominierung einbrachte. Diaz schont seinen Protagonisten nicht und verlangt auch seinem Publikum einiges ab: An Håkans Seite begegnen wir Menschen, die verzweifelt auf ein besseres Leben hoffen, Besessenen, Skrupellosen, Brutalen, Verschlagenen, Fanatischen … und hier und da, wie ein ersehntes Licht am Ende des Tunnels, auch einigen Figuren, die dem Heranwachsenden mit Freundlichkeit begegnen. So weit, so „Western“.

Was mir – neben der fließenden Übersetzung von Hannes Meyer – wirklich gut gefällt an diesem Buch ist, dass alles, was die Männer, die wie eingangs erwähnt um ein Feuer versammelt sind, über Håkan zu wissen glauben, falsch ist … beziehungsweise dass die düsteren Legenden um „Hawk“ so aus dem Zusammenhang gerissen und überdramatisiert worden sind, dass man einen BILD-Reporter an der Feder wähnt. Das Buch entwickelt einen spürbaren Sog, wobei schnell klar wird, dass es kein Wiedersehen mit Linus geben kann. Und da die Frage, ob Håkan das alles überlebt, durch den Prolog bereits geklärt ist, treibt die Frage nach dem „wie“ uns durch die Kapitel.

IN DER FERNE ist in meiner Wahrnehmung ein Roman, der auf kultivierte Großstadtmenschen abzielt, die sich unter dem Deckmäntelchen der Literatur an der Grausamkeit eines Lebens ergötzen, wie wir es uns heute nicht mehr vorstellen können (und wollen); wenn man Ende beschrieben wird, wie in einer Stadt alle, von den feinsten Damen bis zu den Verzweifelten in der Gosse, durch den selben Matsch auf der Straße waten müssen, ist dies (neben einem allzu generellen Bild) natürlich der Gegenentwurf zur sorgsam kuratierten Warenwelt von Manufaktum, möchte meiner Meinung nach aber gerade dieses Publikum in seinen Bann ziehen. Und da braucht es nicht nur das Wilde, da ist das Edle im Wilden wichtig: Kein Wunder also, dass der Junge, der gerade noch kaum Englisch versteht, kurz darauf in Evolutionstheorie unterwiesen und in einem ruckelnden Planwagen zum Meisterchirurgen ausgebildet wird; zum perfekten Kürschner avanciert er später eher nebenbei, bevor er in den Kapiteln, in denen es Brokeback-Mountain-t (selbstverständlich ohne in irgendwelche für heterosexuelle CIS-Männer unappetitlichen Details zu gehen), noch schnell die Sterneküche der amerikanischen Wildnis erlernt.

Bisschen viel des Guten? Vielleicht … aber auch folgerichtig. Håkan, der trotz eines Blutbads seine innere Unschuld nie verlieren wird, wächst über sich und seine eher unerfreulichen Mitmenschen hinaus, im wahrsten Sinne des Wortes, denn zwischenzeitlich scheint er einem Riesen gleich in dem von ihm ohne Werkzeuge, aber mit architektonischem Grundverstand geschaffenen Bunker sein stilles Glück gefunden zu haben … auch wenn dies selbstverständlich nur von kurzer Dauer sein kann.

IN DER FERNE ist ein Roman, den ich mit Vergnügen in einem Rutsch gelesen habe; umso verblüffter war ich, als ich das Buch nach der letzten Seite zunächst höchst befriedigt zuklappte … und dann ins Grübeln kam. Man verstehe mich Lesenden von geringem Verstand nicht falsch: Das ist wirklich ein gelungenes Buch, jedenfalls für das, was Hernan Diaz mutmaßlich wollte. So macht die Begegnung mit einer Schurken-Königin, deren zahnloser Kiefer den Duft von verbranntem Zucker verströmt, ebenso neugierig auf mehr wie die Brutalität einer Bruderschaft, die Siedler gnadenlos jagt – aber das alles bleibt im Ungefähren, wird immer nur in den Momenten konkret, in denen der Autor dies für das Martyrium seines Helden braucht (während, nebenbei erwähnt, unbeantwortet bleibt, woher Håkan nach vielen Jahren auf der Flucht immer noch Wachstuchvorräte hat und ein Skalpell, das niemals stumpf wird). Aber ist es auch ein Werk, an das ich mich gerne zurückerinnern werde? Fragt mich in einem Jahr noch mal.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Hernan Diaz: IN DER FERNE. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin Verlag, 2021