Zwischen Fakten und Fiktion liegt eine Wahrheit, die wie ein Schlag ins Gesicht ist
„Wenn man in Teheran leben will, muss man lügen. Das hat nichts mit Moral zu tun; in Teheran lügt man, um zu überleben. Die Notwendigkeit, sich zu verstellen, ist überraschend egalitär verteilt – sie existiert über alle Klassenschranken hinweg, und es gibt keine religiösen Unterschiede, wenn es um Lug und Trug geht. […] Die Wahrheit ist zu einem Geheimnis geworden, einem seltenen und gefährlichen Handelsgut, das äußerst wertvoll ist und mit großer Vorsicht behandelt werden muss. Wenn man in Teheran jemandem die Wahrheit sagt, ist es entweder ein Akt des absoluten Vertrauens oder der äußersten Verzweiflung.“
Als ich dieses Buch in einer mir unvertrauten Buchhandlung auf dem Hardcover-Stapeltisch entdeckte, auf dem ich Novitäten vermutete, war ich erstaunt: Wie konnte ein so spannendes Thema mir entgangen sein? Nachdem ich es gekauft habe, konnte eine Freundin das zumindest teilweise für mich auflösen – STADT DER LÜGEN ist bereits 2016 als HC erschienen, das TB folgte 2020, und beide Ausgaben bekam offensichtlich nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.
Die in Teheran geborene, heute in England lebende Journalistin Ramita Navai erzählt in acht Texten (und auf 284 fließend von Yamin von Rauch übersetzten Seiten) vom Leben verschiedener Menschen in der iranischen Hauptstadt. Anders als Buchtitel und Vorwort vermuten lassen „lügt“ sie dabei (vermutlich) nicht, sondern fiktionalisiert, was ihr Menschen erzählt haben, und verdichtet unterschiedliche Erfahrungsberichte zu literarischen Reportagen, die mich sprachlos zurückgelassen haben. Sprachlos zum einen, weil ich die Texte als sehr eindringlich empfunden habe; die Autorin erzählt schnörkellos und stets auf Augenhöhe ihrer Figuren, über die sie an keiner Stelle Gericht sitzt, sondern ergebnisoffen in ihrer Vielschichtigkeit porträtiert. Sprachlos aber vor allem, weil die Schicksale, die hier ausgebreitet werden – und nein, Sonnenschein darf man in diesem Buch nicht erwarten –, mich ungemein betroffen gemacht haben.
Der Untertitel des Buchs verspricht „Liebe, Sex und Tod in Teheran“, vermutlich, weil sich „Ohnmacht, Missbrauch und Tod“ als Werbebotschaft eher nicht anbietet. Als roter Faden dient Ramita Navai die Valisar-Straße, der große, von Platanen gesäumte Boulevard, der den reichen Norden Teherans mit dem armen Süden verbindet, eine Lebensader, in der an manchen Orten noch das Echo der alten, glamourösen Stadt nachhallt, während vor allem der staatliche Druck zur religiösen und ideologischen Konformität spürbar ist (was allerdings nicht bedeutet, dass gegen Korruption in seinen mannigfaltigen Formen vorgegangen wird).
Nicht alle Texte haben meiner Meinung nach die gleiche Schlagkraft, insbesondere den über Morteza fand ich weniger gelungen, aber dafür werde ich Leyla, Ashgar und Pari (und vielleicht sogar Somayeh, die blöde Kuh) sicher nicht so schnell vergessen. Wir begegnen Frauen, die erkennen, dass sie die Falschen geheiratet haben, und Männern, die versuchen, ihre eigene Antwort auf die Frage zu finden, was es bedeutet, ein „Mann“ zu sein; wir sind fassungslos, wie absurd leicht es sein kann, sich Freiheiten zu erschleichen und für was man in diesem „Gottesstaat“ trotzdem mit dem Leben bezahlen muss; es versteht sich von selbst, dass Frauen in der Regel härter bestraft werden, und trotzdem trifft es uns immer wieder mit voller Wucht.
Je tiefer wir in eine Welt gesogen werden, in der Schönheitsoperationen alltäglich sind, amerikanische Ratgeberbücher sich großer Beliebtheit erfreuen und Sex ebenso ein Todesurteil sein kann wie eine abweichende Meinung, während in Einrichtungsläden schwülstiger Dekor angeboten wird und direkt daneben jedes Mädchen, das den Zorn eines selbsternannten Tugendwächters „erregt“, in Gefahr schwebt, wächst erstaunlicherweise nicht der Zorn, sondern die Hoffnungslosigkeit: Über Teheran hängt, wenn wir dem Buch glauben, zumeist eine giftige Abgaswolke, und dieses Gefühl der schleichenden Vergiftung überträgt sich auch auf uns Lesende, so wir es versäumen, alle Schutzmauern hochzufahren.
Und doch, und „Ach“, und „Puh“ – STADT DER LÜGEN ist meiner Meinung nach ein Buch, dem es sich auszusetzen lohnt, denn es zeigt uns eine Realität fern unserer eigenen, die uns alle wachrütteln kann und aufmerksamer sein lässt für das, was um uns herum ist und geschieht.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Ramita Navai: STADT DER LÜGEN – LIEBE, SEX UND TOD IN TEHERAN. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Kein & Aber Verlag, 2016.
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