Ein Leben ohne Alan Bennett ist möglich, aber nicht erstrebenswert

„Jetzt ist es wieder nirgendwo, aber für kurze Zeit war es ein Ort, weil Clifford … oder Cliff … dort gestorben ist. Überall an Englands Straßen gibt es heutzutage Orte für Menschen, wo ihre Lieben gestorben sind. Und für manche wird sogar die Leere mitten im Atlantik ein Ort sein, oder der Indische Ozean. Manchmal entsteht so was auch durch Glück und Freude, aber meistens ist es der Tod, der Orte schafft.“

Wäre mein Herz ein Haus, es wäre groß und verwinkelt, ein Bungalow, der sich für Hogwarts hält. Und ein Zimmer, wenn nicht gar ein Wintergarten, wäre reserviert für die Bücher von Alan Bennett: Wer bei diesem großartigen britischen Autor nur an seinen (unpopular opinion: etwas überbewerteten) Bestseller DIE SOUVERÄNE LESERIN denkt, der hat das Beste noch vor sich – denn jeder der schmalen bei Wagenbach erschienenen Bennett-Bände ist ein Geschenk.

Weil man als Beschenkter wissen sollte, was die eigene Rollenanforderung ist, verbietet es sich, Kritik zu üben … und ja, das könnte ich in diesem Fall, wenn ich denn wollte. Denn: DREI DANEBEN, fließend übersetzt von Ingo Herzke, stammt zur Hälfte aus der Feder des britischen Theater- und TV-Regisseurs Nicholas Ryter, der auf 40 der insgesamt 115 Seiten erzählt, wie er den Auftrag bekam, während des Lockdowns 2020 die bereits 1988 verfilmten „Talking Heads“-Monologe von Alan Bennett für die BBC neu zu inszenieren. Das ist launig, lädt zum googlen ein, weil mir viele der erwähnten Darstellenden zunächst nichts sagten, und lässt hinter die Kulissen einer Fernsehproduktion während der Pandemie blicken … aber nun, when I show up for a party all dolled up and ready to go, I expect the music to be playing.

Nachdem wir dies aus dem Weg geräumt haben, darf ich hemmungslos Fanboy-en und sagen, wie verliebt ich in jeden der drei in diesem Buch abgedruckten Monologe bin (zu dem sich ein Szenenfragment gesellt, das der Autor dankenswerterweise noch gefunden hat und von dem man sich wünscht, es wäre länger – wobei es auch in seiner Kürze ein Genuss mit Peitschenknall ist). Bennett erzählt von den unerhörten Gefühlen einer Mutter, von der Trauer einer Witwe, von den letzten Freuden in einem Altenheim – und irritiert, rührt und amüsiert mit einer Treffsicherheit, die einfach eine Freude ist.

Jede dieser Miniaturen ist so befriedigend, als hätte man einen Roman genossen – wobei ich dazu rate, die vorangestellten Einführungstexte erst nach der Geschichte zu lesen. Bennett ist ein genauer Beobachter, der die Schwachstellen der Menschen mit Argusaugen erkennt, dabei aber ein Lächeln auf den Lippen hat; fernab jeder „political correctness“ verwebt er Lebenserfahrung (und vermutlich auch -weisheit) mit Humor, und was soll ich sagen: I was dancing all night long.

Bravo, Alan Bennett, stehende Ovationen und thank you for the music.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Alan Bennett: DREI DANEBEN. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach Verlag, 2022