Eine Heldenreise voller spannender Begegnungen
„Aber man darf es nicht hastig machen, dachte er, als der Wind sachte in den Vorhängen wehte und das Gras langsam durch die Bodendielen wuchs und das Efeu an den Beinen der Kommode emporkletterte. Denn ein einzigartiger Tag verdient es, dass man ihn in aller Langsamkeit noch einmal durchlebt und jedem Augenblick, jedem Wechsel und jeder Wendung der Ereignisse bis ins Kleinste nachspürt.“
Was für ein Vergnügen, was für ein Genuss! Nach dem Emanzipationsroman EINE FRAGE DER HÖFLICHKEIT und dem von einer gewissen Wes-Anderson-haftigkeit und magischen Realismus durchwehten EIN GENTLEMAN IN MOSKAU hat der amerikanische Autor Amor Towles nun sein drittes Werk vorgelegt, in dem er eine – nein, mehrere – klassische Heldenreisen erzählt, an deren Ende(n) nicht notwendigerweise ein positiver Erkenntnisgewinn oder gar Sieg stehen wird. Aber obwohl das damit einhergehende Thema der Erlösung kaum gewichtreicher sein könnte, außerdem das Paradox rund um Schrödingers Katze eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt und das Buch eindringlich davon erzählt, was Väter alles tun können, um ihre Kinder ins Unglück zu stürzen, ist LINCOLN HIGHWAY auf 575 Seiten nie schwerfällig, sondern ein Lesevergnügen, das mich durch die Kapitel fliegen ließ.
Im Mittelpunkt der Handlung, in der diverse Figuren die Erzählung übernehmen, z.B. die famose Sally und ein widerwärtiger „Mann Gottes“, stehen die Brüder Emmett und Billy sowie Dutchess und Woolly, die mit Emmett in einer Besserungsanstalt eingesessen haben und sich nun ein beträchtliches Vermögen unter den Nagel reißen wollen. Obwohl die Brüder eigentlich auf dem Weg nach San Francisco sind, um dort nach ihrer verschwundenen Mutter zu suchen, finden sie sich plötzlich – und alles andere als freiwillig – auf einer abenteuerlichen Reise nach New York wieder. Auf dieser begegnen sie den unterschiedlichsten Menschen, geraten in gefährliche Situationen, finden neue Freunde … und könnten gar ein weiteres Kapitel sein in Billys Lieblingsbuch „Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden“, das mehr Bedeutung hat, als man zunächst denken sollte.
Die Geschichten der griechischen Antike und ihrer Heldenreisen zeichnen sich nicht zwingend durch feinziselierte Charakterzeichnung aus, und so könnten auch die Figuren in Amor Towles Roman holzschnittartig wahrgenommen werden – doch je mehr Zeit man mit ihnen verbringt, umso mehr wachsen sie uns ans Herz: der allzu ernsthafte Emmett, Billy in seiner hoffnungsvollen Unschuld, Woolly mit seiner hilflosen Weltfremdheit und Duchess, dessen Skrupellosigkeit tatsächlich am meisten durchleuchtet wird, sodass wir selbst in seinen dunkelsten Momenten noch entschuldigungswillig an seiner Seite bleiben. Für sie und auch fast alle anderen Figuren, denen wir im Roman begegnen, halten die 10 Tage, die sie mal gemeinsam und mal getrennt voneinander unterwegs sind, Wendepunkte bereit; sie alle werden auf die eine oder andere Art ihre Hoffnungen verlieren und doch temporäres Glück oder gar Erlösung finden.
Als Leser von geringem Verstand vermag ich nicht zu sagen, wie viele konkrete Parallelen zu klassischen Heldengeschichten sich neben dem klar benannten Odysseus-Bezug und dem „Auge um Auge“-Rechtsgefühl des Alten Testaments tatsächlich in LINCOLN HIGHWAY verbergen – vielleicht ist es aber auch müßig, danach zu suchen? „In der menschlichen Erfahrung gibt es eine solche Vielfalt, dass in einer Stadt von der Größe New Yorks jeder Einzelne zu der Überzeugung gelangen kann, sein Schicksal sei einzigartig. Und das ist etwas Herrliches“, heißt es dazu an einer Stelle. „Denn wenn wir uns ein Ziel vornehmen, wenn wir uns verlieben, wenn wir, wie wir es unweigerlich tun, stolpern und dennoch weitermachen, müssen wir im Grunde glauben, dass das, war wir erfahren, noch nie auf dieselbe Weise, so wie wir es erleben, erlebt worden ist.“
Sicher kann man Kritikwürdiges in Amor Towles Buch finden (so wie auch die angenehm fließende Übersetzung von Susanne Höbel kleinere Stolpersteine hat): Sind die Rollen der afroamerikanischen Figuren vielleicht zu klischeehaft, hätte man Sally und auch einer anderen weiblichen Perspektive wie Sarah mehr Raum gewünscht, und sollte es außer Lokalkolorit auch ein wenig mehr Zeitpanorama geben? Ja. Und Ja. Und vielleicht Ja. Und – zumindest für mich – Nein: Ich habe nichts vermisst, ich habe das alles in mich hineingesogen, den analytischen Verstand unter einer weichen Decke aus Begeisterung gebettet und nach jedem Kapitel (ja, auch nach dem letzten!) in den weiten Himmel geschaut, mit sehr viel „HACH!“ im Herzen und einem rundum befriedigten Gefühl.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Amor Towles: LINCOLN HIGHWAY. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Carl Hanser Verlag, 2022
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