Eine Graphic Novel, die mehr Wumms hat als mancher Roman
„Gott im Himmel, du bist so … Sag mir eines: Kannst du es riechen, Roland?“ – „Mhh … Ist mir schon aufgefallen. Urin, Scheiße, Schweiß, gammelige Klamotten, Schnaps, angestandenes Billigbier, Rauch, Kartoffelsuppe mit Wiener … Und ich meine, auch einen Hauch Erbrochenes zu erschnuppern.“ – „Ganz genau, Roland. Der Gestand von Elend und Armut. Und falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Du selbst bist jetzt ein Teil davon, das riecht man ganz deutlich.“
Geduld gehört weniger zu meinen herausragenden Eigenschaften – und Graphic Novels sind eher nicht meine bevorzugte Darreichungsform für Geschichten. Trotzdem bin ich begeistert von „Unter der Oberfläche“, denn der Münchener Künstler Uli Oesterle legt mit dem zweiten seiner auf vier Bände angelegten Verlierer-Ballade VATERMILCH ein besonderes Stück Gegenwartsliteratur vor – eindringlich, weil traurig und bewegend, zunehmend spannend und immer wieder zum Nachspüren der eigenen Familiendynamik und Männlichkeitsfallstricke anregend. Hätte ich nach dem Erscheinen des ersten Bandes „Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss“ auf die Wartezeit von drei Jahren verzichten können? Absolut. Bin ich bereit, noch einmal so lange auszuharren? Zähneknirschend ja, denn: Es lohnt sich!
Oesterle erzählt in VATERMILCH von zwei Männern, die einander kaum kennen, aber doch untrennbar verbunden sind – von Rufus Himmelstoss, dem ehemals galanten Markisenverkäufer und Glücksspieler, der nach einem tragischen Unfall jeden Halt im Leben verloren hat und sich im zweiten Band nicht nur mit dem Leben auf der Straße abfinden muss, sondern auch merkt, dass man sich Vergebung nicht immer erarbeiten kann … und noch ganz andere Dämonen in ihm lauern als die, denen er bereits ins Gesicht blicken musste. Auf der zweiten Zeitebene begegnen wir Rufus‘ inzwischen erwachsenen Sohn Victor, der gerade dabei ist, sein Leben mit schwangerer Frau und anstrengendem Teenagerkind vor die Wand zu fahren. Außerdem treten auf: eine Kommissarin, deren Ermittlungen ins Leere laufen (oder auch nicht), zwei Mütter, die es nicht leicht haben, und die renitente Hauptfigur in der Geschichte, an der Victor gerade arbeitet.
In Ermangelung von besserem Vokabular und jeglicher Genrekenntnis kann ich den Zeichenstil von Uli Oesterle nur unzureichend beschreiben – und deswegen möge man mir nachsehen, wenn ich mich für seine „weiche Kantigkeit“ begeistere und die starken Schwarzweißgrau-Kontraste, bei denen der zurückgenommene, aber gerade deswegen wirkungsvolle Einsatz von Farbe die allgemeine Noir-Stimmung unterstreicht. Wäre VATERMILCH ein Film, man würde den meisterlichen Einsatz der Kamera loben, aber wie fasst man in Worte, dass ein Zeichenkünstler so gekonnt mit Blickwinkeln und seinen Paneln spielt?
Antihelden, die ohne großes Tamtam daherkommen, sind deutlich schwieriger zu fassen als Severus Snape oder Alexis Carrington Colby: Sie müssen realistischer sein, ihre Knackse und Abgründe mehr Fragen stellen, als Ausrufezeichen zu setzen. Oft haben wir deswegen nicht das Vergnügen, sie liebend gerne zu hassen, sondern merken, dass sie uns näher kommen, als wir wollen, und deswegen ein gewisses Unwohlsein bei uns auslösen. So geht es mir mit Rufus und Victor. Und deswegen halte ich VATERMILCH für Literatur, die sich lohnt.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Uli Österle: VATERMILCH: Unter der Oberfläche. Carlsen Verlag, 2023
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