Gabriele von Arnim hat ein Buch geschrieben, dass sicher niemand vergessen wird, der es gelesen hat
„Das war ihre Situation. Ein entzweites Paar findet sich in einer erschlagenden Krankheit zusammengeknebelt. Und nun? Wie aus der vorherigen Entfremdung eine Anziehung herstellen? Wie kann man lieben lernen. Denn Liebe muss sein. Was für ein Satz. Aber vielleicht stimmt er sogar. […] War es Glück? Waren die letzten zehn Jahre Glück? Man ist ja geneigt, Zeiten glücklich zu nennen, die es nicht waren, überglänzt sie in der Reminiszenz mit steter Malarbeit, damit man gern an ein Damals zurückdenken kann, in dem man nicht gern war. […] Aber es ist wichtig, ob die Jahre glücklich waren. Sie waren und sind in ihr. Haben sie geprägt, gezeichnet, umgeformt. Sie wünscht sich die Zeit gewiss nicht zurück. Aber sie ist doch dankbar dafür, sie gelebt und überstanden zu haben.“
Wo anfangen? Das fällt mir als Leser von geringem Verstand bei vielen Büchern schwer, bei diesem besonders, weil es so dicht ist – und so nah an vielen Ängsten, die nichts mit den 235 Seiten zu tun haben (was für eine geringe Zahl, die in keiner Relation zur Größe des Inhalts steht!).
Vermeintlich kann man den Inhalt einfach zusammenfassen: Gabriele von Arnim erzählt in DAS LEBEN IST EIN VORÜBERGEHENDER ZUSTAND davon, wie sie ihren Mann verlassen will – nur um am selben Tag durch eine über ihn hereinbrechende Krankheit daran gehindert zu erden. 10 Jahre lang wird sie für ihn sorgen, sich abarbeiten und (auch darin) finden, sie wird organisieren, verzweifeln, wütend sein und sich der Situation ergeben (manchmal voll Sanftmut, manchmal nicht, und immer wieder getröstet durch die Schönheit des Alltäglichen).
Wo aber wirklich anfangen? Vielleicht bei der brachialen Wucht, die dieses Buch zu Beginn hat, der kreatürlichen Gewalt der Krankheit in all ihren Facetten, die mich seltsam unvorbereitet getroffen hat. Liegt es daran, dass ich fast ausschließlich Romane lese und mir bei – natürlich autofiktional inszenierter und orchestrierter – „Non-Fiction“ die Möglichkeit fehlt, einen Sicherheitsabstand einzuhalten? („Ist doch nur Film“, höre ich die Stimme meiner Mutter beim Versuch, vor langer Zeit ihr aufgewühltes Kind zu beruhigen … und für mich bis heute ein sicherer Anker.) Was Gabriele von Arnims Mann widerfahren ist, kann uns alle treffen, der Schicksalsschlag ebenso wie die Mühlen des Gesundheitssystems und die Qual des Krankseins; das muss, das wird immer einen Effekt auf uns haben.
Über das Ausgeliefertsein, den Kontrollverlust, das Leid zu lesen, wäre für mich im Safe Space meiner Wohnung nicht möglich gewesen, also habe ich mir andere gesucht – ein Kapitel in einer Bar, ein Glas Wein in Reichweite und die hereinbrechende Dunkelheit am Odeonsplatz (inklusive malerischem Schneefall) vor dem Fenster, eins in einem Lieblingscafé, mit Kuchen und Kaffee und irgendwann schnatternden Stimmen am Nebentisch, deren durchaus enervierende Lebendigkeit ein wenig Watte zwischen den Text und mich stopften. Obwohl das, von dem die Autorin schonungslos ihr sehr persönlich geprägtes Zeugnis ablegt, zum Weglaufen ist, zieht es tief in die Geschichte hinein … und zum Glück wird es danach zwar nicht einfacher für das Ehepaar, aber weniger niederschmetternd für uns Lesende.
Denn: DAS LEBEN IST EIN VORÜBERGEHENDER ZUSTAND ist die Geschichte vielfacher Verluste, aber auch des Überlebens, des Weitermachens, der Siege ohne Medaille. Und es ist in meiner Wahrnehmung ein Meisterwerk der Konstruktion (weswegen es umso irritierender ist, dass sich die Autorin am Ende bei ihrer Agentin für den Hinweis auf die anfängliche Strukturschwäche bedankt) – Gabriele von Arnim arbeitet mit Vorausblicken und Rückblenden, wechselt die Erzählperspektive von der ersten in die dritte Person, referenziert auf ihre Tagebücher, und auch wenn wir uns die meiste Zeit als Zuhörende eines intimen Monologs wähnen dürfen, ist das Buch auch (oder auch immer wieder) als Brief an eine Freundin geschrieben, von der offen bleibt, ob es eine konkrete Person sein mag oder ein schweigender Chor. Das verleiht dem Text Eleganz, zwischenzeitlich fast eine Leichtfüßigkeit unter der drückenden Schwerkraft; das Buch fühlt sich an wie eine altgediente Holztischplatte, über die wir immer wieder unsere Fingerkuppen gleiten lassen, da jede Unebenheit nur die Schönheit und ganz eigenen Form des Poliertseins verdeutlicht.
DAS LEBEN IST EIN VORÜBERGEHENDER ZUSTAND ist eine Liebeserklärung – nicht unbedingt an den Mann, um den es geht, und nur zum Teil an die Resilienz der Autorin, die sorgfältig darauf achtet, auch Zweifel und Borstigkeiten zuzulassen. Aber es ist (Achtung, großes Drama jetzt und irgendwo spielt ein Streichorchester) eine Liebeserklärung an das Leben, das Weitermachen, das Überleben. An anderer Stelle habe ich gelesen, dass das Buch als tröstlich und als Geschenk empfunden wurde – dem kann ich mich eher nicht anschließen … und dann wieder doch.
Einerseits wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich nie über die finanziellen Mittel verfügen werde, die der Autorin glücklicherweise zur Verfügung standen; ich befürchte auch, dass ich nicht mit so viel innerer Stärke auf die Eisstürme des Lebens reagieren werde. Andererseits hat mich neben der Statik des Textes auch die feine Schlauheit begeistert; anders als in vielen Essays, in denen ich von der schieren Fülle von Quellen und Zitaten mehr eingeschüchtert als mitgenommen fühle, haben mich die von Gabriele von Arnim unaufdringlich eingestreuten Verweise auf David Grossman, Arno Gruen oder Silvia Bovenschwein immer wieder zum Nachdenken gebracht. Was nun vermutlich der richtige Zeitpunkt ist, um zu gestehen, dass ich dieses Buch streng genommen nicht erst einmal, sondern wiederholt gelesen habe – denn es gab wenige Absätze, die ich nicht direkt ein zweites Mal lesen wollte, sowohl um sie noch besser zu verstehen als auch, um mich an ihnen zu erfreuen. Aus irgendeinem Grund widerstrebt es mir, dem Text Herzenswärme zu unterstellen, aber Verstandreibung, ja, die auf jeden Fall!
Wie nun enden? Mit Begeisterung und einer Verbeugung.
***
Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Gabriele von Arnim: DAS LEBEN IST EIN VORÜBERGEHENDER ZUSTAND. Rowohlt Verlag, 2021
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