Schon fast ein Klassiker der amerikanischen Gegenwartsliteratur
„Aus dem Fenster starrend, stellte Litvinoff sich diese zweitausend Exemplare der ‚Geschichte der Liebe‘ als einen Schwarm von zweitausend Brieftauben vor, die mit den Flügeln schlagen, zu ihm zurückkehren und berichten konnten über die Zahl der vergossenen Tränen, der Lacher, der laut vorgelesenen Stellen, wie oft der Buchdeckel nach kaum einer Seite Lesen brutal zugeschlagen worden war, wie viele überhaupt nicht aufgeschlagen wurden.“
Es muss nicht immer Frontlist sein – und manchmal ist es erstaunlich, welches Lesevergnügen bereits in die zwölfte Auflage gegangen ist, bevor ich es endlich für mich entdecke. So ging es mir mit DIE GESCHICHTE DER LIEBE, den 2005 in Deutschland veröffentlichten Roman der amerikanischen Autorin Nicole Krauss, der sich jeder allzu konkreten Einordnung wiedersetzt: Es ist ein Familienroman mit Wahlverwandtschaftskonstellationen, eine Spurensuche und eine Coming-of-Age-Geschichte, in der bittersüße Liebe, der Holocaust und der Wunsch, nicht nur gesehen zu werden, sondern sichtbar zu sein, sehr eng miteinander verwoben sind … und der Stoff dadurch erstaunlicherweise nicht steif wird, sondern leichtfließend bleibt. Außerdem gibt es ein „Buch im Buch“, das die verschiedenen Ebenen miteinander verbindet, die titelgebende „Geschichte der Liebe“ – und ausgerechnet dies ist das einzige Element, das mich nicht überzeugt hat.
Nicole Krauss versteht es virtuos, in die verschiedenen Rollen zu schlüpfen, aus denen heraus sie erzählt, und den alten Mann, der bereits im Winter seines Lebens angekommen ist, genau so überzeugend dazustellen wie ihre junge Heldin, die es noch vor sich hat. Beide sind natürlich darauf angelegt, uns möglichst schnell ans Herz zu wachsen: Leo Gursky, der die Shoah überlebt hat und alles daransetzt, nun nicht unbemerkt aus dem Leben zu scheiden, und Alma Singer, die noch nichts von der Liebe weiß, was sie selbstverständlich wenig zögern lässt, nach einer neuen für ihre verwitwete Mutter zu suchen. Und doch will sich Krauss mit den Figuren nicht anbiedern, sie lässt ihnen – wie allen anderen – ihre Brüche und Geheimnisse; DIE GESCHICHTE DER LIEBE ist daher auch eins jener seltenen Bücher, in denen selbst die kleinsten Nebenrollen so gut besetzt sind, dass man ihnen eine eigene Serie wünschen würde, ohne dass man das Gefühl haben müsste, sie würden im Ensemble zu kurz kommen.
Zur Handlung muss – und will – ich hier nichts verraten, denn obwohl Nicole Krauss auf plakative „Ha, so isses also!“-Enthüllungen verzichtet, ist DIE GESCHICHTE DER LIEBE eine Spurensuche, die noch dazu immer wieder zwischen den Zeitebenen springt. Zugegeben: Die eingestreuten Zitate aus dem titelgebenden Buch kann ich eher als Kunstgriff würdigen, als sie begeistert an mein Herz zu drücken, aber davon abgesehen hat mich der von Grete Osterwald übersetzte Roman 347 Seiten lang begeistert. Zumal es auch noch die traurigste Vater-Sohn-Begegnung bietet, die ich mir vorstellen kann, und so viele kleine, zarte Momente, die man unbedingt in Erinnerung behalten möchte.
Wer dieses feine Meisterwerk, leuchtend gemalt mit eher gedeckten Farben, noch nicht kennt: LESEN, und zwar jetzt, denn wer weiß, ob es in unserer immer schnelllebigeren Zeit noch zwölf weitere Auflagen haben wird (auch wenn es ihm sehr zu wünschen wäre).
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Nicole Krauss: DIE GESCHICHTE DER LIEBE. Aus dem Englischen von Nicole Krauss. Rowohlt Verlag, 2005.
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