Late to the Party, aber: Ein Bücherschrankfund, der mich glücklich gemacht hat
„Müsste ich sagen, was es, würde ich sagen: die Stille. Es ist die Stille, die mich von anderen unterscheidet, mich und meine Familie. Die Stille, die fehlt. Die fehlende Stille, also das Laute eigentlich, der Lärm. Aber Stille klingt besser als Lärm, dramatischer, wichtiger und romantischer irgendwie. Bei uns zu Hause fehlt die Stille.“
Manches Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt, genau dann, wenn wir es brauchen, und so war es auch mit MEINE WEISSEN NÄCHTE, das geduldig auf mich gewartet hat: 2004 ist es erschienen, 2023 stand es in einem öffentlichen Bücherschrank, in den ich nur schnell etwas stellen wollte, denn gebrauchte Bücher und ich, das ist eine Geschichte voller Missverständnisse, wenn auch möglicherweise nur in eine Richtung. Und nachdem der flexible Leinenband mitsamt seines leicht schmuddeligen Schutzumschlags nun einige Zeit auf dem Balkon auslüftete, habe ich ihn ohne große Erwartung zur Hand genommen – und bin mit so viel nachhallendem Vergnügen in die Geschichte gefallen, dass ich Lena Gorelik sofort Kränze aus Lorbeer und Gold winden möchte.
Anja Buchmann ist noch ein Kind, als ihre Familie 1992 die Möglichkeit hat, dem allgemeinen Mangel (und dem im Überfluss vorhandenen Antisemitismus) in Russland als „Kontingentflüchtlinge“ zu entkommen: Zwei Tagesreisen liegen zwischen Sankt Petersburg und ihrer neuen Heimat, einem winzigen Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft; zwei Tagesreisen, ein Kulturschock ohne Ausrufezeichen und ein neues Leben, das ihre kühnsten Träume übertreffen kann … auch wenn es ein bisschen auf sich warten lässt. Gorelik erzählt unaufgeregt und mit einem leisen Lächeln von dem, was hinter ihrer Protagonistin liegt, vom Ankommen in einem Land, das nicht auf sie und ihre Familie gewartet hat, und von der späteren Anja, die studiert, ihren verständnisvollen deutschen Freund liebt, ihren sicheren Platz gefunden zu haben scheint – bis plötzlich Ilja auftaucht, ihre Jugendliebe aus der Notunterkunft. Und so selbstverständlich, wie der Klischee-Russe mit der Wodkaflasche schmust, weiß Ilja, wie er Anja aus dem Gleichgewicht bringen kann …
Viele Culture Clash-Geschichten haben das Problem, dass die Fremdartigkeiten oder Entbehrungen der Vergangenheit uns Lesende packen, uns betroffen kurzatmig werden lassen – wogegen die emotionalen Herausforderungen der Protagonisten im neuen Lebensabschnitt zumeist nicht ankommen und in der Gegenüberstellung wie Luxusprobleme wirken. Gorelik umschifft dies souverän:
Anja schaut mit einem gewissen nostalgischen Grausen auf die Vergangenheit, das eher tief stapelt, als laut anzuklagen; sie führt die Andersartigkeit ihrer Familie zwar bewusst vor, setzt den Humor aber so wohltemperiert ein, dass auch die stets um das leibliche Wohl ihrer Familie besorgte Mutter keine Karikatur wird; und vor allem nimmt sie das Hurlyburly zwischen Anja, ihrem Freund Jan und dem supersexy Ilja nicht ernster, als es emotionale Verwirrungen mit Anfang 20 verdienen. Hier läuten Glocken, weil sie da sind, und nicht, weil die Autorin bemüht an einem Seil zerren oder den großen Hammer schwingen würde. Darum ist MEINE WEISSEN NÄCHTE neben der unauffällig eingewobenen politischen Ebene ein richtig guter Unterhaltungsroman voller kleiner Faustschläge und Glückmomente, die hier nah beieinander liegen: Wenn Anja sich an ihr Pflegepferd erinnert, ist das ebenso großes Kino (der letzte Satz von Kapitel 22: besser geht es einfach nicht!) wie die Liebeserklärung an einen Lehrer, der mit Wollknäueln und Zugewandtheit Erfolge feiert.
Wenn ich’s richtig sehe, ist das Buch vergriffen, aber unbedingt wert, antiquarisch gekauft zu werden: 271 Seiten (plus ein Kartoffelsalatrezept), die keinen Wunsch offen lassen – ein schlaues, liebevolles, bewegendes und zwischendurch hinreißendes Lesevergnügen, für das ich nichts anderes als Liebe empfinden kann.
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Ich habe dieses Buch aus einem öffentlichen Bücherschrank gezogen; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Lena Gorelik: MEINE WEISSEN NÄCHTE. SchirmerGraf Verlag, 2004
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