Eine Spurensuche und ein Lesehighlight, das sich nicht immer sofort erschließt

„In mehr als einer Hinsicht verdanke ich den Bevels, dass ich Schriftstellerin wurde, auch wenn Mildred schon seit Jahren tot war, als ich Andrew kennenlernte. Aber ich habe mir noch nie erlaubt, die Geschichte zu erzählen, die sie beide mit mir verbindet. Vielleicht, weil ich immer noch Angst vor Andrews Rache hatte, selbst aus dem Jenseits. […] Aber nun, mit siebzig, ist es anders. Jetzt fühle ich mich stark genug. Und deshalb stehe ich an diesem Herbstmorgen vor den offenen Türen. Um erneut den Ort zu besuchen, an dem ich zur Schriftstellerin wurde. Um endlich Mildred Bevel kennenzulernen, wenn auch nur durch ihre Schriften.“

Was braucht es, um eine Frau auszulöschen: Verklärung, Hilflosigkeit oder Eigennutz? Dieses Buch ist ein Highlight – und das, obwohl mir TREUE zwischendurch gar nicht gefallen wollte. Warum sich das änderte, kann ich leider nur durch Spoiler verraten, um mich so der „vierteilen Matroschka“ zu nähern, wie der Roman von Hernan Diaz im Klappentext sehr schlau bezeichnet wird.

TREUE setzt sich zusammen aus vier Teilen: Aus „Verpflichtungen“, einem Roman des nach der Veröffentlichung in der Versenkung verschwundenen Harold Vanner, aus der unvollendeten Autobiographie „Mein Leben“ des unfassbar reichen Spekulanten Andrew Bevel, den „Erinnerten Memoiren“ der Schriftstellerin Ida Partenza und abschließend „Vereinbarungen“, einem Tagebuchfragment aus den letzten Tagen von Andrews Frau Mildred. All das bezieht sich aufeinander, widerspricht, erklärt und ergänzt sich, und gibt es in der Spannungsliteratur oft einen „unreliable narrator“, haben wir hier auf jeden Fall zwei, möglicherweise sogar drei …

In „Verpflichtungen“ erzählt der fiktive Harold Vanner in der Tradition Edith Whartons (oder F. Scott Fitzgeralds) vom Ehepaar Rask – er ein brillanter, wenn auch autistisch wirkender Multimilliardär, der hinter dem Börsencrash des Jahres 1929 steckt, sie seine faszinierende, kulturbegeisterte Frau. Diese mitreißenden und von einer ebenso raunenden wie kühlen Eleganz durchzogenen 128 Seiten habe ich mit größtem Genuss und wachsender Anteilnahme gelesen … was mich umso mehr stutzen ließ, als ich zum ungleich trockeneren „Mein Leben“ kam.

Es brauchte einige Seiten, bis ich Leser von geringem Verstand begriff, dass es sich hierbei nicht um eine Parallelgeschichte handelt oder einen Ausflug ins Multiverse of Madness, sondern dass Andrew Bevel, das Vorbild für Rask in Vanners Roman, mit diesem unvollendeten Memoir die Deutungshoheit über sein Leben zurückgewinnen will – und über das seiner Frau Mildred, die ganz anders war. Diese 64 Seiten zogen sich in ihrer selbstbeweihräuchernden Eitelkeit wie Kaugummi … und doch wäre es fatal gewesen, sie nur zu überfliegen.

Denn: In „Erinnerte Memoiren“ begegnen wir Ida Partenza, die 50 Jahre, nachdem sie als Ghostwriterin an Bevels Autobiographie arbeitete, in seinen zum Museum gewordenen New Yorker Herrschaftssitz zurückkehrt, um in den jüngst für die Öffentlichkeit freigegebenen persönlichen Unterlagen des Ehepaars nach Spuren der echten Mildred zu suchen, die sie einst im Auftrag ihres Mannes auf die Rolle der liebenswerten Wohltäterin reduzieren sollte. – Auch diese 168 Seiten haben Längen, denn Ida nimmt sich für mein Gefühl zu viel Zeit, um über ihren Vater zu schreiben, einen italienischen Drucker und Wohnstuben-Revoluzzer … was Hernan Diaz aber braucht, um die Parallelen zwischen dem skrupellosen Kapitalisten und dem mittellosen Anarchisten aufzuzeigen, die nichts sind ohne die Frauen in ihrem Leben – dies aber selbstverständlich nicht wahr haben wollen.

Überhaupt, die Männer in diesem Buch: allesamt Schweine, gefangen in ihrem Weltbild, das wir heute toxisch nennen würden, und der festen Überzeugung, die Zügel in der Hand zu haben … was, wie uns nicht zuletzt das abschließende Tagebuchfragment von Mildred zeigen wird, ein Irrtum ist.

TREUE von Hernan Diaz hat viele Ebenen, von denen die Geburt des Raubtierkapitalismus‘ sicher die lauteste ist, aber nicht die entscheidende: Hier geht es darum, wie drei Menschen versuchen, sich einer Frau zu bemächtigen, sie instrumentalisieren und ihr dadurch, alle auf ihre Art, Gewalt antun – der Schriftsteller, der mich an Truman Capote denken ließ (der mit seinem legendären Romanfragment ERHÖRTE GEBETE seine vielen Vertrauten bloßstellte, allen voran Barbara „Babe“ Paley); der Ehemann, der unter dem Vorwand, seine Frau zu rehabilitieren, nichts anderes als die Auslöschung ihres Wesens betreibt; und schließlich Ida, die uns Lesenden so sympathisch ist, auch wenn wir uns am Ende fragen müssen, ob sie durch einen Diebstahl in Kauf nimmt, dass Mildreds wahrer Charakter für immer verborgen bleiben wird. (Und: Es würde mich reizen zu wissen, ob es Zufall ist oder ein Übersetzungsfehler oder ein bewusster Hinweis, dass sich in Idas in der ersten Person erzählten Kapitel ein Satz aus der Perspektive einer auktorial Erzählenden findet …)

In Unkenntnis des Originals kann ich sagen, dass die Übersetzung von Hannes Meyer einen hervorragenden Eindruck macht; ob der Verlag gut beraten war, den englischen Titel TRUST mit TREUE zu übersetzen, sei dahingestellt, da so die wirtschaftliche und juristische Bedeutung verloren gehen – aber ach, und aber HACH, treu sind (zumindest sich selbst) tatsächlich alle Erzählenden in diesem Roman über die verschiedenen Wahrheiten, die eine Geschichte haben kann. Großes Kino!

***

Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Hernan Diaz: TREUE. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin Verlag, 2022.