Die Spuren einer Familie nach dem Völkermord an den Armeniern
„Dass meine Vorfahren Opfer eines Völkermordes geworden sind, erfuhr ich zum ersten Mal in der siebten Klasse. Aus einem Nebensatz meiner Geschichtslehrerin. […] ‚Wieso hast du mir das nicht erzählt?‘, fragte ich, als ich am Wochenende bei meinem Vater in der Küche saß. Statt mir zu antworten, sah er mich vorwurfsvoll an, und der Ausdruck wich für den Rest des Tages nicht mehr aus seinem Gesicht.“
Dieses Buch macht es mir schwer – nicht beim Lesen, denn die Journalistin Laura Cwiertnia ist eine sehr gute Erzählerin, und es war ein kurzweiliges Vergnügen, ihre 238 Seiten umfassende Geschichte zu lesen … wobei sich natürlich die Frage stellt, ob es geschmacklos ist, hier von Kurzweiligkeit zu sprechen. Hinzu kommt: Der Text wird auf der Titelseite als Roman eingeordnet, aber die Vita der Autorin könnte andeuten, dass er stark autobiographisch geprägt ist – und verbietet sich damit vielleicht jeder Vergleich? Denn der drängt sich mir immer auf zu DSCHINNS von Fatma Aydemir. Wer meine Rezension dazu gelesen hat, wird sich vielleicht erinnern, dass ich diesen Roman sehr mochte, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass die Autorin zu ambitioniert zu viel in ihre Geschichte packen wollte und deswegen nicht immer ins Schwarze traf.
Diesen möglichen Kritikpunkt sehe ich Leser von geringem Verstand bei AUF DER STRASSE HEISSEN WIR ANDERS eher nicht: So, wie in der Familie der Protagonistin Karla über die Vergangenheit in Albanien, der Türkei und Israel hinweggeschwiegen wird, so sehr hatte ich den Eindruck, dass auch das Buch die Konfrontation eher scheut; es gibt Alltagsprobleme und Andeutungen zur tragischen Vergangenheit, mal gefühlvolle und mal raunende Rückblicke und die durch eine rätselhafte Erbschaft ausgelöste Reise von Tochter und Vater in die albanische Heimat ihrer Vorfahren mit abschließendem Erkenntnisgewinn … aber für mein Empfinden wurden so nur bekannte Versatzstücke abgehakt und Erwartungshaltungen bedient, ohne in die Tiefe zu gehen.
Wie so oft bei Romanen, in denen tragische Ereignisse der Vergangenheit ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen – ich denke unter anderem an die von mir geschätzten Werke WO AUCH IMMER IHR SEID von Khuê Pham und ALEF von Katharina Höftmann Ciobotaru –, kann die Gegenwartshandlung von dieser emotionalen Wucht nur auf die Knie gezwungen werden, und so empfinde ich es auch bei AUF DER STRASSE HEISSEN WIR ANDERS. Aber während die beiden genannten Werke – und DSCHINNS – noch lange nach der Lektüre durch viele Details in meiner Erinnerung nachhallen, fällt es mir schon wenige Wochen später schwer, mich an Laura Cwiertnias Roman zu erinnern. Gleichzeitig muss sich die Frage stellen, ob mir überhaupt zusteht, solch ein Urteil zu fällen, wenn das Buch einen größeren autobiographischen Anteil haben sollte … und es geschmacklos ist, wenn ich sage, dass ich das in diesem Buch dargestellte Grauen weniger eindringlich empfand als vieles, was ich davor gelesen habe (oder eben AUCH, WEIL ich schon vieles davor gelesen habe)?
AUF DER STRASSE HEISSEN WIR ANDERS verspricht viel, löst dies meiner Meinung nach aber nicht ein. Ob ich es trotzdem empfehle? Ja. Es gibt viele verschiedene Türen, durch die man treten kann, um die Abgründe des 20. Jahrhunderts aus sicherer Distanz zu erleben; diese hier war keine, die ich noch einmal öffnen würde, was aber nichts daran ändert, dass die Autorin Respekt dafür verdient, uns den Schlüssel anzubieten.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Laura Cwiertnia: AUF DER STRASSE HEISSEN WIR ANDERS. Klett-Cotta Verlag, 2022
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