Das dämlichste Cover aller Zeiten für einen wirklich tollen Roman
„Selbst zwei alte Frauen, die nebeneinander in der U-Bahn der Second-Avenue-Linie sitzen, die eine auf dem Heimweg zu ihren drei Enkeln und ihrem tatterigen Ehemann, können einander in die Augen blicken und wieder spüren, wie es einmal war. Jenen Moment heraufbeschwören, wo dieses runzelige Klappergestell, das neben einem sitzt, etwas Überraschendes, besonders Schönes mit einem macht, man atmet die Erinnerung ein, und die Schwere, die Sterblichkeit, die zweckmäßigen Schuhe sind nur noch Kostümierung und fallen von einem ab, sodass sich für einen kurzen Augenblick das wahre Selbst erhebt, nackt und rosig, und durch den U-Bahn-Wagen tanzt.“
Liebevoll und ruppig, intim, ohne indiskret zu werden, und trotz dem Wissen um die Kälte der Welt von einer melancholischen Zärtlichkeit durchdrungen – all das ist MEINE ZEIT MIT ELEANOR, und wer sich wie ich schaudernd schütteln möchte ob des grässlichen Covers, der möge dies tun, um sich danach umso hingebungsvoller in den Roman von Amy Bloom fallen zu lassen.
Während Amerika im April 1945 um seinen Präsidenten Franklin D. Roosevelt trauert, bereitet sich die Journalistin Lorena Hickok auf ein Wiedersehen mit ihrem Lebensmenschen vor – der Witwe des Verstorbenen, Eleanor. Drei Tage werden die beiden in einem New Yorker Apartment verbringen, sich in den Armen halten und wissen, dass sie trotz der gemeinsamen Vergangenheit keine Zukunft haben. Und so erinnert sich „Hick“ in Schlaglichtern, zunächst an ihre grausame Kindheit und an die wie von Tim Burton inszenierte Zeit bei einem Wanderzirkus, vor allem aber an ihre Jahre mit Eleanor und im Weißen Haus, an Begegnungen mit dem Präsidenten und die Unmöglichkeit einer Liebe, die ein offenes Geheimnis war und sich doch nie frei – und schon gar nicht vor den Augen der Öffentlichkeit – entfalten durfte.
Amy Bloom erzählt auf den von Kathrin Razum übersetzten 265 Seiten nicht chronologisch und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – natürlich kennen wir manche Figuren, die erwähnt werden, aber bei anderen (wie der norwegischen Kronprinzessin Märtha) bleibt offen, warum Hick sich nur mit einem Augenrollen an sie erinnert. Obwohl alle Beteiligten Rollen in der Politik ihrer Zeit spielten, ist diese nur als Hintergrundrauschen wahrnehmbar, und auch die Erpressungsversuche eines Verwandten werden mehr angedeutet als zur Konstruktion eines Spannungsbogens genutzt; eine amerikanische Zeitung warf dem Roman deswegen einen fehlenden narrativen Kern vor. Ich sehe das anders. Gerade weil vieles fehlt, wirkt MEINE ZEIT MIT ELEANOR auf mich so persönlich, fast wie ein langes Gespräch mit einer Freundin – ich konnte mich Hick durch die nostalgische Subjektivität viel näher fühlen, als es in einer Romanbiographie möglich gewesen wäre. Vor allem gilt: Obwohl man davon ausgehen kann, dass Lorena Hickok und Eleanor Roosevelt sich mehr als nur sehr nah standen, ist der Roman fiktiv und erhebt nicht den Anspruch, etwas zu verraten, was uns auch nichts angehen würde.
Obwohl der Verlag durch das bereits erwähnte Cover sein Möglichstes tut, um uns von dieser Geschichte fernzuhalten, wäre dies für mich ein Verlust gewesen – wer es mag, auf intelligente Art berührt zu werden, wird MEINE ZEIT MIT ELEANOR sicher so genießen wie ich.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Amy Bloom: MEINE ZEIT MIT ELEANOR. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Atlantik Verlag, 2019.
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