Fatma Aydemirs Debütroman begeistert wie ihr Bestseller DSCHINNS
„Selbst wenn ich mich vor ihn setzen und es ihm erzählen würde, Wort für Wort, mit allen Details: Er würde mir nicht glauben. Es wäre einfach zu krass für ihn. Und das ist ein Gefühl, das ich gegen nichts auf der Welt eintauschen möchte. Er denkt, er wäre stärker, er denkt, er muss mich beschützen und meine Tasche tragen. Aber in Wahrheit ist alles völlig anders. In Wahrheit hat er keine Ahnung.“
Wenn ich ein weiteres Buch einer Autorin lese, die mich bereits mit einem anderen begeistert hat, dann ist das für mich Lesenden von geringem Verstand manchmal schwierig, denn: Muss sich das eine am anderen messen, und haben Ergebnisvergleiche jenseits des Sportplatzes überhaupt eine Berechtigung? Um es noch komplizierter zu machen, handelt es sich bei ELLBOGEN um das Debüt von Fatma Aydemir, das ich erst nach ihrem zweiten Roman DSCHINNS gelesen habe. Aber so viel schon einmal vorab:
ELLBOGEN hat mich begeistert, ich halte es für ein wichtiges Buch, und auch, wenn ich mich mehrmals mit meinem Kleines-Mädchen-im-rosa-Kleidchen-Quieken fragte „Warum liest du das warum tust du dir das an ich will jetzt Konfetti trallala“, habe ich die Auseinandersetzung mit dieser gerade einmal 271 Seiten langen literarischen Breitseite als sehr bereichernd empfunden.
Hazal, Tochter von türkischen „Gastarbeitenden“, lebt – eigentlich: verharrt – in engen Grenzen der unterschiedlichsten Art, fern jeder Aussicht auf Erfolg; ob dies daran liegt, dass sie von der Gesellschaft marginalisiert wird oder sie diese ihr zugedachte Rolle bereitwillig angenommen hat, mögen schlauere Köpfe ergründen. Als sie an ihrem 18. Geburtstag nicht in den Club kommt, den sie und ihre Freundinnen sich ausgesucht haben, führt diese Zurückweisung zu einer Verkettung von schicksalhaften Umständen, durch die Hazals bis dahin in stetiger Frustration erstarrtes Leben in Bewegung gerät, was ein Weg in die Zukunft sein könnte … oder eine Abwärtsspirale.
Hazal ist eine grandiose Figur, weil authentisch, weil furchtbar, weil liebenswert, weil reibungsintensiv, weil „WTF?“: Die Autorin lädt ein, Nähe zu ihr aufzubauen, während sie uns gleichzeitig auf Abstand zu ihr hält. Bei Romanen mit jungen Figuren liegt die Vermutung nah, dass man sie ins Genre des „Coming of Age“ einordnen kann – aber ELLENBOGEN ist eher „Age as it is“. Und: Offen bleibt für mich, ob hier der Idee der Heldinnenreise der Mittelfinger gezeigt wird … oder gerade nicht.
(Erwähnen möchte ich unbedingt, wie gut mir die Rolle von Hazals Tante gefallen hat – und wie spannend ich es fand, parallel noch einmal den Artikel „Die Vergessenen“ von Laura Cwiertnia aus dem Zeit-Magazin zu lesen.)
ELLBOGEN ist ein Buch über Enttäuschung, Hilflosigkeit und Wut, über echte und gefühlte Hürden, die allesamt zu hoch erscheinen, und es ist in meiner Wahrnehmung vor allem ein Buch über Angst, die sich manchmal als Stolz verkleidet, manchmal als Scham und nahezu durchgehend als Fatalismus. Während ich bei DSCHINNS das Gefühl hatte, dass die Autorin etwas zu sendungsbewusst ein breites Themenspektrum abhakte und mich die Konstruktion ihrer männlichen Figuren nicht komplett überzeugt hat, ist ELLBOGEN von größter erzählerischer Souveränität nebst manipulativer Schnodderigkeit, was mich angesichts der Tatsache, dass dieser Roman ein Debüt ist, ehrfurchtsvoll auf die Knie fallen lässt … und eine vibrierende Vorfreude auslöst auf alles, mit dem Fatma Aydemir den deutschen Buchmarkt noch bereichern wird.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Fatma Aydemir: ELLBOGEN. Carl Hanser Verlag 2017.
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