Ein amerikanischer Blockbuster, über dessen moralische Haltung man besser nicht nachdenkt

„Ich weiß seit Langem, dass in mir eine Schlechtigkeit schlummert, eine geheime Perversion, etwas Verdorbenes, das ich vor ihm zu verbergen versuche. Das er hoffentlich niemals sehen muss.“

DER PAPIERPALAST von Miranda Cowley Heller ist ein hervorragend konstruiertes, süffig erzähltes – wenn auch oft slightly overwrittenes – Buch, in das man sich mit einem wohligen Seufzer fallen lassen kann. Ich verstehe, warum es ein Erfolg geworden ist, auch wenn mich dies etwas schaudern lässt. Und wer diesen 441 Seiten langen Roman mochte oder noch lesen will, möge sich nun bitte aus diesem Text verabschieden, da ich nachfolgend für mich verarbeiten möchte, warum ich Leser von geringem Verstand das Buch als manipulativ, moralisch fragwürdig und durchaus widerwärtig empfinde … also: SPOILER AHEAD!

Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Elle Bishop, Mutter von drei Kindern und höchst geliebt von ihrem britischen Ehemann Peter, hat Freunde der Familie zum jährlichen Gedenken für ihre verstorbene Schwester eingeladen – und sich am Ende des emotional aufgeladenen und feucht(fröhlich)en Abends aus dem Haus geschlichen, um sich zum ersten Mal von Jonas, ihrer bislang unerfüllten Jugend- und Lebensliebe, vögeln zu lassen. Der Roman beginnt am Morgen danach und erzählt chronologisch sowohl das, was an diesem Tag noch passieren wird, als auch in Rückblicken die Geschichte von Elle.

Im gleichen Maße, wie das Buch reichgesättigt ist mit üppigen Beschreibungen der Flora und Fauna des malerischen – dabei aber sehr bodenständigen – Cape Code, so ist auch die Handlung übervoll mit kleinen und großen Brutalitäten: Stiefmütter sind verschlagen und Mütter „very judgemental“, Kinder werden wahlweise vernachlässigt oder sexuell missbraucht, die Hauptfigur erniedrigt, vergewaltigt und zusammengeschlagen (Eva Menasse leitet ihr Quote zum Buch auf dem Schutzumschlag übrigens ein mit den Worten „Sommerlicher Suchtstoff“.) – aber selbstverständlich hat Elle das Credo ihrer Mutter verinnerlicht, dass eine Frau wie Botticellis Venus sein sollte, mit züchtig geschlossenen Lippen und stets bereit, für den Mann (pardon my German) die Beine breit zu machen.

Die Darstellung sexueller Gewalt in Unterhaltungsromanen ist meiner Meinung nach ein zweischneidiges Schwert: Ja, es ist wichtig, darüber aufzuklären, es ist wichtig, uns alle für das Thema zu sensibilisieren und aufzuzeigen, dass es immer noch die Tendenz der Opfer gibt, die unmenschliche Erfahrung zu verschweigen aus Angst vor Zurückweisung oder Ächtung. Aber in diesem Fall habe ich es zunehmend so empfunden, dass die Autorin diese Schockmomente vor allem deswegen so gezielt und mit Lust am Detailreichtum einsetzt, um den dramatischen Höhepunkt zu ermöglichen:

Nachdem Elle von ihrem Stiefbruder vergewaltigt worden ist, kommt es zu einem Unfall, bei dem der Täter stirbt, weil Elle und Jonas entscheiden, ihn nicht zu retten; der Preis, den sie dafür schicksalsschwanger zahlen, ist ihre aufkeimende Beziehung, die von den Schuldgefühlen erdrückt wird. Jedenfalls bis zu dem Punkt, wenn Elle viele Jahre später erfährt, dass der Stiefbruder auch seine eigene Schwester vergewaltigt hat. Nachdem die Autorin meiner Empfindung nach sowieso schon zu sehr damit kokettiert hat, dass man den Tod des Täters als gerechte Strafe ansehen könnte und es wichtiger ist, mit den unglücklich Liebenden zu leiden, erteilt sie Elle und Jonas so die Absolution: „Hey, voll super, die Sau hatte es echt nicht anders verdient, nun steht euch doch eigentlich nix mehr im Wege.“ Da erscheint es dann möglicherweise auch hochromantisch – und nicht creepy und übergriffig –, wenn sich Jonas in Elles eheliches Schlafzimmer schleicht, um dort eine Erinnerung an seine ewige Liebe für sie zu verstecken.

Was dem Happyend noch im Wege steht sind nun selbstverständlich die beiden Ehen, aber auch hier bietet die Autorin einfache Lösungen: Jonas‘ Frau wird bei einer Begegnung mit Elle endgültig in ein unschönes Licht gestellt (zum einen, weil sie vor Elle zu pinkeln beginnt und sie damit unangenehm berührt, und zum anderen, indem sie die kalte Renovierung der vorher wortreich als wunderschön beschrieben alten Einrichtung eines Hauses als gelungen bezeichnet). Und Peter? Der darf noch einmal den ehelichen Besitzanspruch durch Beischlaf ausleben („Nur die Männer sind ein bisschen zu perfekt, aber sei’s drum“, sagt Eva Menasse), dann erkennt Elle, dass er ja so ein herzensguter Typ ist, der ihr maximal das letzte Pistazieneis wegisst, ihr aber nie die Kinder nehmen wird. Also werden besagte Kinder noch einmal wie zum Abschied durchgeknuddelt, der Mutter nach all den Jahren endgültig die ganze Wahrheit über den Missbrauch gesagt, und dann geht’s nach einem reinigenden Bad in eine mutmaßlich wunderbare, weil die ganze Zeit von den Lesenden ersehnte Zukunft mit Jonas. Ich verstehe, dass an dieser Stelle viele Lesende befriedigt aufseufzen werden, und vermutlich hätte ich das auch getan, wäre ich nicht vorher zu oft ins Straucheln geraten, und darum: WTF?

In schwierigen Zeiten, und in denen leben wir leider, ist der Wunsch nach einer Welt nachvollziehbar, die bodenständiger ist als unsere komplexe Gegenwart. Daher verlieren wir uns so gerne in den Beschreibungen von Cape Cod: Das Ferienhaus, obwohl nur aus Papier gebaut, übersteht auch den kalten, einsamen Winter, um dann zu neuem Leben zu erwachen – heissa hossa, so wollen wir doch auch alle sein! Dass die Mäuse im Haus für Dreck und Urinflecken sorgen: Kann man wegkehren, und das gehört doch alles zum rustikalen Charme! (Und überhaupt der Urin: Hier wird von Frauen gepinkelt, das Natursektfreunde vermutlich feuchte Augen bekommen – vor allem in Büschen und am Strand, denn das ist NATÜRLICH, und das ist in dieser MANUFAKTUM-ohne-Gentrifizierungsballast-Heimeligkeit ein nicht zu unterschätzendes Gut. Bevor jemand schreit: Ich finde es natürlich vollkommen okay, dass das geschieht, Frauen sollen das gleiche „Recht“ haben, sich allüberall zu erleichtern wie Männer, aber ich habe den Eindruck, dass damit vor allem ein Ausrufezeichen gesetzt werden soll, statt einen Punkt zu machen.) Dass an einem der Strände ein begehrtes Fleckchen fürs Sonnenbaden gesperrt ist, um eine seltene Vogelart nicht beim Brüten zu stören: Eine Frechheit, Menschen haben ein Anrecht darauf, die Natur so zu nutzen, wie sie wollen, und natürlich stellt sich am Ende heraus, dass die Vögel so oder so die Verlierer sind, denn nur die Anwesenheit der Menschen hat sie bisher vor den Coyoten geschützt …

In einer solchermaßen einfachen, idealisiert archaischen Weltordnung liegt der Gedanke dann vermutlich verführerisch nah, dass ein Missetäter seine „gerechte“ Strafe durch Selbstjustiz bekommen darf und die eine, große, wahre, alles andere ausblendende Liebe wichtiger ist als alles andere. Meiner Meinung nach spielt Miranda Cowley Heller zu kalkuliert mit diesen Wünschen und Urinstinkten von uns allen, und so gerne ich mich im Rahmen eines Unterhaltungsromans darauf einlassen würde, ich schaffe es leider nicht.

Wollen wir noch einmal zu Eva Menasses Verkaufsempfehlung kommen? „Ergreifend, witzig, tragisch und sehr gut übersetzt“ empfindet die von mir geschätzte Autorin den Roman. Es steht mir in Unkenntnis des Originals nicht zu, die Arbeit von Susanne Höbel zu bewerten, aber in der Redaktion hätten diverse Holperstellen, die sich durch das gesamte Buch ziehen, geglättet werden können, wenn beispielsweise „hell brennende Liebe nie schwankte“, Blowjobs „gegeben“ werden und eine grässliche Schwiegermutter zum Abendessen „einen Tofu-Curry“ androht. Den möglicherweise vorhandenen Witz bekommt das Buch in der Gegenwartsebene durch Elles Mutter, die für ihr Alter selbstverständlich noch sehr schöne Wallace, die kein Blatt vor den Mund nimmt („Unglückliche Menschen sind immer interessanter als glückliche.“) – was freundlich umschreibt, dass sie Vergnügen dabei empfindet, zur Wahrung der eigenen Überheblichkeit verbale Ohrfeigen auszuteilen. Während vermutlich jede Schauspielerin über 60 bereits darauf giert, diese zugegebenermaßen schillernde Rolle in der nächsten HBO-Produktion zu spielen, bleibt bei mir der schale Nachgeschmack, dass diese herrlich kompromisslose Frau nie den kleinen Finger gerührt hat, nachdem sie annahm, dass ihr zweiter Mann ihre Tochter vergewaltigt hat und damit ungeschoren davon kam: Immer an Botticelli denken!

Jackie Thomae fasst den PAPIER PALAST auf der Rückseite des Schutzumschlags wie folgt zusammen: „Glitzernde Wellen über einer dunklen Unterströmung.“ Das trifft es tatsächlich perfekt. Doch während viele Lesende bei dieser Dunkelheit (möglicherweise zurecht) an all das Schlimme, Ungesagte, Hangende und Bangende der Handlung denken, steht für mich die moralische Fragwürdigkeit dieses auf Hochleistung getrimmten „sommerlichen Suchtstoffs“ im Vordergrund. Schade.

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Miranda Cowley Heller: DER PAPIERPALAST. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Ullstein Verlag, 2022