Mit CHOPIN IN KENTUCKY schenkt uns Elizabeth Heichelbech eine Heldin zum Verlieben – und ein Lesevergnügen, das Schwere und Leichtigkeit perfekt ausbalanciert.

„Frédéric Chopin hat mir beigebracht, dass das Leben in Préludes gelebt wird; in Anfängen, Fragmenten, in Miniaturen über Gemütslagen, manche nicht einmal eine Minute lang. In Einführungen zu umfangreicheren Werken, die gar nicht existieren. In Wiegenliedern, die von Wegklagen übertönt werden. ‚Warum bist du nicht ein bisschen mehr wie Mozart?‘, frage ich ihn, wenn ich ihm richtig auf die Klaviatur gehen will. ‚Vorhersehbar und eingängig. Und voller wohlklingender Melodien.‘ | ‚Warum bist du denn nicht so, Marie?‘ stichelte er mit seinem hauchigen französisch-polnischen Akzent zurück.“

Irgendwo im amerikanischen Nirgendwo zieht ein vom Leben überforderter Vater, der sich an seinem Glauben festklammert wie andere an einer Flasche, den Gürtel aus den Hosenschlaufen, um eins seiner Kinder windelweich zu prügeln. Oder auch alle hintereinander, wenn er sie zu fassen bekommt. Jeder Schlag gibt ihm die trügerische Sicherheit, das Richtige zu tun. Und während wir ihn für jeden Gewaltausbruch mehr hassen, schließlich wir eins seiner Opfer so sehr ins Herz, dass wir sicher sein können: Diese tapfere, patente und mit Fantasie und Träumen gesegnete Marie Higginbottom, die werden wir so schnell nicht vergessen.

Nun mag es irritieren, wenn ich meine Rezension mit der Brutalität eines Vaters beginne, der kaum mehr ist als eine Nebenfigur, aber tatsächlich wäre diese Außenseiterballade ohne die Gewalt, ohne die ungeschönt dargestellte Armut einer Familie nicht das zarte und gleichzeitig Technicolor-leuchtende Lesevergnügen, von dem wir uns gerne gefangen nehmen lassen. Hier prallen Gegensätze aufeinander – und bewahrheiten sich gleich mehrere Kalenderweisheiten, darunter „Unter Druck entstehen Diamanten“ und „Sterne brauchen Dunkelheit, um funkeln zu können“.

Elizabeth Hechelbech entführt uns in ihrem Roman CHOPIN IN KENTUCKY ins Jahr 1977 und in die amerikanische Provinz. Die zu Beginn zehnjährige Marie hat wenig, an dem sie sich erfreuen kann, und ihr imaginärer Freund ist auch nur bedingt hilfreich, denn bei ihm handelt es sich um den Komponisten Frédéric Chopin. Zum Glück lernt Marie die gleichaltrige Misty McPherson kennen, die gerade noch an Schönheitswettbewerben teilgenommen hat, nun aber gemeinsam mit ihrer Mutter („Immer dran denken: Zuerst das Haarspray abtrocken lassen, bevor du dir eine neue Zigarette anzündest!“) eine Marktlücke entdeckt: Sie will das erfolgreichste Double des jüngst verstorbenen Elvis Presley werden.

Eine Hommage an LITTLE MISS SUNSHINE – aber CHOPIN IN KENTUCKY von Elizabeth Heichelbech ist auch unabhängig von der Referenz ein Vergnügen.

Schon nach den ersten Zeilen des Prologs kann man ahnen, dass Elizabeth Heichelbech keinen auserzählten Roman geschrieben hat, sondern ihren Scheinwerfer auf die High- und Lowlights von Maries Coming of Age richtet. Dabei erliegt sie nicht der Versuchung, die Geschichte in den Torture Porn abgleiten zu lassen und ihre Protagonistin zur Schmerzensmadonna zu verklären: Marie, die davon träumt, eine Ballerina zu werden, muss viele Rückschläge einstecken, aber diese Little Miss Sunshine (eine gewisse Verwandtschaft zum gleichnamigen Film ist sicher kein Zufall) wächst uns durch ihren Durchhaltewillen ans Herz, ihr Sehnen und Hoffen. Die Autorin erzählt nicht im erwachsenen Rückblick, sondern aus der Perspektive ihrer kindlichen Protagonistin, und das mit so viel trockenem Humor, dass es eine Freude ist – und vermutlich auch ein Verdienst der Übersetzerin Lena Riebl.

Ein Chopin, der zur Musik der legendären TV-Sendung Soul Train tanzen will, eine Nonne, die getröstet werden muss und eine Ballerina, die fast vergiftet wird, dazu eine Mädchenfreundschaft, die so wunderbar ist, dass ihr mögliches Ende uns mitleiden lässt: Hier werden sehr viele Knöpfe gedrückt, um uns emotional werden zu lassen – und dabei immer wieder ein Grinsen zu schenken. Zudem versteht sich Elizabeth Hechelbach hervorragend auf schöne Momente, die möglicherweise ohne Anspruch auf Lebensweisheitsverkündung daherkommen … und ihn dann doch haben wie dieser:

„Rockmusik war uns natürlich verboten, weil sie immer von Sex und Drogen handelte. Aber irgendwie machten wir es möglich [heimlich ‚Dust in the Wind‘ von Kansas zu singen]. Chopin hob die behandschuhten Hände und applaudierte dezent neben seinem linken Ohr, als würde er einer Oberndiva Anerkennung zollen. ‚Glaub mir‘, sagte er und beugte sich nach vorn, ‚für das Verbotene und das Unmögliche findet man immer einen Weg.‘“

CHOPIN IN KENTUCKY verdankt dem Münchener Favoritbuero eins der hinreißendsten Einbandmotive dieses Frühjahrs – und wir der Autorin eine Heldin, die keine Überfliegerin sein muss, um über sich hinauszuwachsen.

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern vom Verlag als Leseexemplar erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Elizabeth Heichelbech: CHOPIN IN KENTUCKY. Aus dem Englischen von Lena Riebl. Schöffling & Co., 2025