Anfang der 1990er Jahre eroberte Banana Yoshimoto mit KITCHEN die Welt – aber überzeugt das Buch auch 2025 noch?
„Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mit meinen eigenen Händen und Augen die Erfahrung, wie groß die Welt und wie tief ihre Dunkelheit ist, erlebte ich, von welch unendlicher Faszination, aber auch grenzenloser Einsamkeit sie ist.“
Vermutlich gehöre ich nicht zu den ehrgeizigsten Menschen, FOMO ist mir fremd, und dem für viele unschönen Gedanken, dass ein Leben nicht reicht, um alle Bücher zu lesen, die interessant sind, begegne ich in der Regel mit einem entspannten Schulterzucken. Es kann schon sein, dass ich viel verpasse – dafür gibt’s an anderer Stelle Feuerwerk.
Das mag nun eine etwas umständliche Einleitung sein, um zu sagen: „Auf dieses Buch hätte ich verzichten können.“ Denn leider war mir KITCHEN sympathischer, bevor ich es gelesen habe. Der schmale, von Wolfgang E. Schlecht übersetze Band umfasst auf 168 Seiten die zwei zusammenhängenden Erzählungen KITCHEN und VOLLMOND (KITCHEN 2) sowie den Stand-Alone-Text MOONLIGHT SHADOW; in der vorliegenden Modern-Classic-Neuausgabe bei Diogenes schließt sich ein Nachwort von Doris Dörrie an. Und möglicherweise wäre es besser gewesen, dies zuerst zu lesen? Möglicherweise hätte ich mich dann mehr mitreißen lassen.
Doris Dörrie liebt KITCHEN von Banana Yoshimoto. Ich wiederum finde Doris Dörrie toll. Aber teilen wir einen Buchgeschmack?
KITCHEN erschien 1992 erstmals im deutschsprachigen Raum, und es war damals gefühlt überall; dass ich mich daran erinnere, liegt an der ikonischen Umschlag-Illustration von Heinz Ita (auf die für die Neu- bzw. Parallelausgabe verzichtet wurde) und daran, dass ich im Lauf meiner Verlagskarriere immer wieder Kolleginnen hatten, die das Buch für etwas ganz Besonderes hielten. In diesen Chor stimmt auch Doris Dörrie ein, die es schon mehrfach empfohlen hat – und nun im Nachwort schreibt:
„Ich sehnte mich nach einer modernen Version von Sei Shōnagon[s Kopfkissenbuch] – bis ich KITCHEN las. […] Die Figuren und ihre Gefühle waren mir vertraut. Ich jubelte, denn genau das hatte mir gefehlt. Banana Yoshimoto las sich so frisch und direkt, als sei es ihr ‚aus dem Pinsel geflossen‘, sie schrieb über Nudelsuppen so präzise wie über Liebe und Verlust, Einsamkeit und Trauer.“
Ich kann mir gut vorstellen, dass KITCHEN in den 1990ern „a breath of fresh air“ für viele Leser*innen war, so wie ich mich Ende der 1980er Jahre in GROSSSTADTSKLAVEN von Tama Janowitz verliebte – eine Geschichtensammlung, die lange vor SEX AND THE CITY von einem New York erzählte, das mir aufregend erschien, exotisch, flirrend. Und als ich es vor ein paar Jahren noch einmal lesen wollte? Irritierte mich die Erzählweise ebenso wie die Übersetzung, sodass ich das Buch schnell wieder zuklappte: Manchmal ist es besser, alte Lieben ruhen zu lassen. (U.L. aus D. am R.: Ich wüsste trotzdem gerne, was aus Dir geworden ist, aber das sei hier nur am Rande erwähnt.)
Liegt es also an mir – oder ist KITCHEN von Banana Yoshimoto nicht gut gealtert?
Die Geschichte ist vielversprechend: Die jung verwaiste Mikage hat gerade ihre Großmutter verloren, als der Student Yūichi ihr anbietet, bei ihm und seiner Mutter einzuziehen. Wobei Eriko streng genommen sein Vater ist, der nach dem Tod der Mutter beschlossen hat, selbst als Frau zu leben und einen Nachtclub aufzumachen. Mikage und Yūichi begegnen sich von nun an aber nicht nur in Mikages Lieblingsraum, der Küche, sondern auch in geteilten Träumen, was ihn verwirrt und sie nicht weiter überrascht. Aber werden die beiden am Ende von MONDLICHT (KITCHEN 2) ein Paar geworden sein? Das verrate ich hier nicht – nur so viel: Es ist wirklich ein wunderbarer Einfall, wie wichtig es für Mikage wird, Yūichi ein besonders gut zubereitetes „katsudon“ zu bringen.
Als Banana Yoshimoto die Geschichten 1988 in Japan veröffentlichte, war ein Mann, der als Frau lebt (und, wie in einem Nebensatz erwähnt wird, „überall“ operiert ist), sicher noch ein literarisches Wagnis. Liest man die Geschichte 2025, erscheint der Umfang mit einer potenziellen trans Person irritierend hemdsärmelig (zumal auch noch das Wort „Transvestitenbar“ fällt), aber lässt man sich darauf ein und liest die entsprechenden Stellen mit etwas Abstand noch ein zweites Mal, kann man ahnen, wie viel progressives Denken und Verständnis sich zwischen den Zeilen verbirgt.
Sprachlich vielleicht ganz wunderbar – aber leider nicht für mich …
Ich kann verstehen, was Doris Dörrie begeistert – das Fließende, eine „Fluidität in der Wahrnehmung der Welt“, wie sie schreibt. Auf mich wirkt Yoshimotos Erzählstil aber seltsam entrückt, oft sprunghaft und übertrieben in nahezu allen Reaktionen; das kann seinen Reiz haben, sorgt bei mir aber eher für Irritation als Begeisterung.
„In Sekundenschnelle, ohne dass ich die Zeit gehabt hätte, mich darauf einzustellen, hatte sich die Szene verändert“, schreibt die Autorin zum Beispiel, wenn die Protagonistin das Haus verlässt. „Ich war nun draußen in der kalten Winternacht.“ Was hat sie erwartet, eine freundliche Fee, die sagt: Gleich wird’s dunkel und kalt …? Und wenig später heißt es über diesen Spaziergang: „Auch das Atmen fiel mir plötzlich schwer. Es schmerzte richtig. Sosehr ich auch den kalten Wind in mich hineinzusaugen versuchte, es war, als fände nur ein dünner Luftstrahl den Weg in meine Lungen. Etwas wie ein Stachel tief im Inneren meiner Augen war dem eisigen Wind ausgesetzt und wurde zusehends kälter.“ Während ich dies hier tippe und dabei zum vierten Mal lese, merke ich: Ja, kann man machen. Aber es lässt mich stolpern, statt mich mitzureißen.
Hinzu kommt, dass die Figuren permanent lachen – immerzu und nahezu als einzige genannte Gefühlsregung. An anderer Stelle las ich, dass es sich dabei um eine unsensible Übersetzung handeln könnte, da man die Wörter 笑う (warau) und 笑顔 (egao) zwar mit „lachen“ und „lächeln“ ins Deutsche übersetzen kann, dabei aber eventuell die verschiedenen Bedeutungsebenen außer Acht lässt. Aber jetzt spontan eine Fremdsprache lernen, um KITCHEN in seiner möglicherweise ganzen Schönheit zu verstehen und zu genießen? Nee. Da fehlt mir der Ehrgeiz.
Und so lege ich das Buch zur Seite, schüttle mein zwischenzeitliches „WTF?“ ab … und erfreue mich lieber an dieser Stelle:
„Im selben Moment wurde mir alles klar. Ganz deutlich stand es mir vor Augen, so nah, als könne ich es mit den Händen greifen: In dem von Tod umgebenen Dunkel waren unsere Gefühle dabei, in einer sanften Kurve aufeinander zuzustreben. Wenn sie sich jetzt verfehlten, würden sich unsere Wege wieder trennen, würden wir für alle Zeiten nicht mehr als gute Freunde sein.“
***
Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern von einem Freund geschenkt bekommen, der beim Verlag arbeitet. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Banana Yoshimoto: KITCHEN. Aus dem Japanischen von Wolfgang E. Schlecht. Diogenes, 1992; in der Neuausgabe 2025 mit einem Nachwort von Doris Dörrie.
Schreibe einen Kommentar