Besessenheit und Selbstermächtigung: ein literarisches Highlight

„Die geheimnisvolle alte Frau [die, neben der Leiche des Ermordeten stehend, auf die Heldin wartet] ist aber nicht nur Eibhlín Dubhs älteres Ich. Sie ist auch du und sie ist ich. Auch wir beide sind in dieser seltsamen Gestalt; wir blicken durch ihre Augen, wir sind in ihren dunklen Mantel gehüllt. Wir breiten ihn gemeinsam über Arts Körper aus. Wir geben etwas von uns, um ihn zu beschirmen. Wir stehen bei ihr, in Trauer vereint. In dieser Fremden sind wir alle aufgehoben. Ich werde nicht zulassen, dass Eibhlín Dubh das hier allein erleidet, und du wirst es auch nicht. Lasst uns einschreiten und ihr beistehen. Wir können nicht zulassen, dass die Vernunft diesen Augenblick stört. Verweigere uns das nicht.“

Ins „caoineadh airt uí laoghaire”, das irische Klagelied für den 1773 getöteten Art ó Laoghaire, hat seine Witwe Eibhlín Dubh all ihren Schmerz und ihre Wut fließen lassen, aber auch die Erinnerung an eine große Liebe, die ihr Leben in eine tragische Richtung lenken wird: „O mein Geliebter, wahrhaftig und stark! | Als ich dich einst sah | beim Reetdach auf dem Markt | mein Aug‘ hell erleuchtet, | mein Herz voller Freude, | floh mit Dir die Meinen, | so weit von daheim.“ Doch wer war die eigenwillige Frau, die das Blut ihres toten Geliebten trinken wird (und deren Nachfahren kaum ein Wort für sie übrig hatten)? Diese Frage lässt der preisgekrönten Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa keine Ruhe: Zunächst beginnt sie, das Verswerk aus dem Irischen ins Englische zu übersetzen – tastend, sich immer wieder in Frage stellend, aber von einem inneren Drang beseelt –, bevor sie in alten Schriften und vor Ort auf Spurensuche geht.

EIN GEIST IN DER KEHLE erzählt eindringlich zwei sich berührende, manchmal spiegelnde Geschichten von Besessenheit und Selbstermächtigung: der von Eibhlín Dubh, die mit den Konventionen ihrer Zeit bricht und dafür einen hohen Preis bezahlen wird – und der von Doireann Ní Ghríofa, die auf ganz andere Art getrieben das Behüten, Bewahren, Beschützen zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat. „Dies ist ein weiblicher Text“, so beginnt das erste Kapitel, und dem will ich als Leser von geringem Verstand nicht widersprechen … aber hinzufügen, dass ich dieses Buch als zutiefst menschlich und vielleicht gar ohne die Notwendigkeit einer Rollenzuordnung empfinde. Es ist feinpoliert und doch archaisch, ein Hohelied auf die Kunst der Übersetzung (die hier mehr Bedeutungen hat als die Übertragung von Worten aus der einen in die andere Sprache, sondern auch das Finden und Festhalten von Bildern bedeuten kann, die es gegeben haben mag, vielleicht aber auch nicht), geprägt von einer tiefen Sinnlichkeit der Wahrnehmung – und dabei oft so intensiv, geradezu rauschhaft erzählt, dass ich den Atem angehalten und viele Seiten ein zweites, ein dritten Mal gelesen habe, selbst dann, wenn es um Überforderungen, Obduktionen und Autounfälle ging.

Zwei Übersetzende haben an diesem Buch mitgewirkt: Cornelius Reiber übertrug den Text, was ihm (von mir in Ermangelung der Originalkenntnis beurteilt) hervorragend fließend gelungen ist, Jens Friebe die Lyrik, was ich an einigen gegenübergestellten Versen nicht immer gelungen fand; gleichzeitig lehrt dieser autofiktionale Roman (der sich allerdings souverän jeder klaren Genrezuordnung entzieht), dass es in dieser Frage – wie auch bei der Beurteilung einer Person, die wir nur durch die Zeugnisse anderer kennenlernen – keine allgemeingültige Antwort geben kann.

„Ein Buch wie dieses kommt nur alle paar Jahre und verwischt jede klare Definition von Genre und Form“, schrieb The Irish Independent: „Ohne zu übertreiben: EIN GEIST IN DER KEHLE ist verblüffend und vollkommen neu.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, außer von Herzen kommend und beschwingt un-feuilleton-esque: GANZ GROSSE LESELIEBE!

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Doireann Ní Ghríofa: EIN GEIST IN DER KEHLE. Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe. btb Verlag, 2023