Das Leiden einer britischen Hausfrau in den 1950er Jahren

„Wie kleine Eisberg halten alle [Frauen] ein helles, strahlendes Gesicht über Wasser, doch unter der Oberfläche, viele Faden tief getaucht in Müßiggang, verbirgt jede ihre eigene, vereinsamte Persönlichkeit. Einige sind glücklich, einige vergiftet vor Langeweile, einige trinken zu viel, und einige sind, unterhalb einer Demarkationsline, leicht verrückt; manche lieben ihre Ehemänner, und manche gehen an Lieblosigkeit ein; ein paar wenige haben Talent, so unbrauchbar für sie wie ein gelähmtes Körperglied. Ihre Freundschaften, die so offen und heiter wirken, sind glühend und kurzlebig, und verwandeln sich schnell in Bosheit. Zusammengeschlossen könnte ihre Energie eine Revolution auslösen, halb Südengland mit Strom versorgen, ein Atomkraftwerk betreiben. Alles das ist auf die anstrengungslose Aufgabe ausgerichtet, auf dem Common zu leben. Es gibt Zeiten, ungefähr in der Mitte des Schuljahres, da scheint die stille Luft wie aufgeladen zu sein, kurz davor, einen Blitz herauszuschießen; dann ist es gefährlich, ein schrill läutendes Telefon zu berühren, und eine Kaffeetasse könnte explodieren – ohne jeden Grund.“

Nachdem ich mich in den Einband schockverliebt habe (und entsprechend überrascht wurde dadurch, dass das Motiv nicht aus der Hand eines „echten“ Künstlers stammt, sondern „nur“ aus der Bilddatenbank Shutterstock), musste ich BEVOR DER LETZTE ZUG FÄHRT unbedingt haben – und weiß als Leser von geringem Verstand nun nicht, wie ich den in England erstmals 1958 veröffentlichten und 2023 von Kristine Kress ins Deutsche übertragenen Roman von Penelope Mortimer für mich einordnen soll.

Die Geschichte lässt sich dagegen einfach zusammenfassen: Ruth Wilding, Frau eines Arztes und Mutter von drei Kindern, könnte im idyllischen Umland von London ein glückliches, weil privilegiertes Leben führen – aber ach, sie leidet an allem. Ihr Nervenkostüm vibriert, ihr Gatte ist ebenso herrisch wie gefühlskalt, die Kinder weit weg, ganz egal, ob sie im Internat sind oder zuhause. Ruth dreht sich beständig um sich selbst, was bei einem Menschen, der nicht weiß, wo seine Mitte liegen könnte, folgerichtig zu Schleuderbewegungen führt. Dabei muss sie gerade jetzt einen klaren Kopf bewahren, denn ihre Tochter wird ungewollt schwanger …

War dieser Roman Ende der 1950er Jahre ein Paukenschlag … oder einer von vielen, der genüsslich Tabus brach? Dass die Handlung in vielen Aspekten genau so auch in unserer Gegenwart spielen könnte, ist jedenfalls nicht nur irritierend, sondern erschütternd. Penelope Mortimer schreibt mit dem Skalpell und gelegentlich der Heckenschere, sie ist oft grandios, führt ihr Ensemble aber mit sardonischem Lächeln vor – weswegen ich dem Buch immer wieder in Momentaufnahmen zujubeln konnte, es letztendlich aber auch als anstrengend empfunden habe: Keine der Figuren ist mir sympathisch geworden, und auch Ruth selbst möchte man die meiste Zeit schütteln. Wäre es nun richtig oder ungebildet, Vergleiche zu Mortimers Zeitgenossin Barbara Pym zu ziehen, die als Chronistin ihrer Zeit ebenso genau hinschaute, aber auf mich einen weniger gnadenlosen Eindruck macht? Und ist das, was ich als Schwäche einordnen würde, möglicherweise eine Stärke? Und schließlich: Wie läse sich der Roman, hätte Mortimer ihn heute in ein sicher anders agierendes Lektorat gegeben?

Ein Buch, das so unterschiedliche Fragen aufwirft, ist sicher eins, das es zu lesen lohnt, und deswegen möchte ich Kränze winden für den Verlag, der es mir ermöglicht hat, Penelope Mortimer kennenzulernen – und noch dazu in dieser wunderbar handschmeichelnden Ausgabe mit Lesebändchen. Könnt ihr es pretty please auch alle kaufen und lesen und mir sagen, was ihr darüber denkt?

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Penelope Mortimer: BEVOR DER LETZTE ZUG FÄHRT. Aus dem Englischen von Kristine Kress. Dörlemann Verlag, 2023