PARISER ROMANZE von Franz Hessel ist ein Klassiker, an dem man sich stoßen kann – und gerade deswegen auch lieben wird.
„Oder wollen wir gleich in der Küche essen? Das ist so lustig. Und dann hinuntergehen in die befreundete Nacht des stillen Boulevards und die Avenue hinab und am hohen Gitter des Gartens Luxembourg entlang? Später vielleicht in die hellen lauten Cafés des Quartiers. Oder hinüber ans andere Ufer in die andere Stadt. Oder nur immer auf und ab am Gitter in zeitlos langen Gesprächen voll junger Weisheit und erfahrener Torheit.“
Die meisten Bücher liebt man für die Geschichte, die in ihnen erzählt werden. Eine neue Erfahrung ist es für mich, einen Roman ans Herz zu drücken, der mir zunächst weniger gefiel … bis ich mich in das verliebt habe, was der Autor uns nicht erzählt. Und es bleibt für mich Leser von geringem Verstand offen, ob er das nicht wollte oder nicht konnte. (Was ich aber kann: Davor warnen, dass dieser Text Spoiler enthält.)
PARISER ROMANZE von Franz Hessel (1880–1941) wurde 1920 erstmals veröffentlicht, aber nicht bei Rütten & Loening, bei dem der Vorgänger DER KRAMLADEN DES GLÜCKS erschien: Wenn man dem zugänglichen Nachwort des Autors Manfred Flügge glaubt, lag das am Zeitgeist – kurz nach Ende des ersten Weltkriegs gab es keinen Markt für ein Buch, in dem voller Sehnsucht der Zauber von Paris beschworen wird. Dies sah Ernst Rowohlt anders, zumal er in Hessel vielleicht schon ein anderes Potential erkannt haben könnte; behaltet das im Hinterkopf, darauf komme ich noch zurück.
Willkommen in der Belle Époque
Zuerst einmal: PARISER ROMANZE – eine großartige Idee! Der Protagonist Arnold Wächter hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die schönste Zeit seines Lebens in Paris verbracht, mit seinem besten Freund Claude, mit deutschen und anderen „Expats“ und immer in der flirrenden Nähe von Frauen, die sich noch nicht entschieden haben, ob sie ihre Schönheit dazu nutzen werden, Malern Modell zu sitzen, einen reichen Ehemann zu finden oder sich der Prostitution hinzugeben. Mit Claude durchstreift er die Pariser Nächte, begegnet Künstlern, lässt sich auf Opiumpfeifchen einladen … und denkt nun an all das zurück, während er Claude drei schwärmerische, das Vergangene feiernde Briefe schreibt. Aber, ach: Er tut dies aus dem deutschen Militärdienst. Wird Wächter nun gezwungen, erneut nach Paris aufzubrechen, nicht als Freund, sondern als Angriffskrieger?
Der Untertitel des Romans gibt der Geschichte eine weitere tragische Ebene: PAPIERE EINES VERSCHOLLENEN deuten an, dass Wächter (wenn auch im Off) keine freudvolle Zukunft erwartet. Ist es ein schwacher Trost, dass er nicht nach Paris marschieren wird, sondern gen Osten – und doppelt schrecklich, dass sich zum Erscheinen des Buchs schon jener Unmut zu verdichten begann, der ins Dritte Reich führte?
Man kann PARISER ROMANZE als Anti-Kriegs-Roman lesen; Mittelpunkt – und für mich Stein des Anstoßes – ist etwas anderes: Wächters überhöhte Gefühle für eine junge Frau. Lotte ist zu einer Freundin nach Paris geschickt worden, um sie so für den Berliner Heiratsmarkt attraktiver zu machen. Zum ersten Mal begegnen sich die beiden, als Lotte auf einem Ball im Knabenkostüm auftritt und sofort eine Faszination auf Wächter ausübt; also erfüllt er ihr gerne den Wunsch, das wahre Paris jenseits der Touristenattraktionen kennenzulernen.
Die Frau, für Franz das unbekannte Wesen …?
Was kommt, ist klar … oder vielleicht nicht? In einem Moment der Innigkeit, der einen Kuss möglich gemacht hätte, zögert Wächter; so anziehend Lotte ist, so sehr liebt er die Idee eines unschuldigen Wesens:
„Wir kamen auf eine Chaussee und zu einem kleinen Dorfkirchhof, wo sie zwischen Grabsteinen Primeln, Krokus und Veilchen pflückte. Da war sie ganz Mädchen. Mädchen pflücken, wie Tiere grasen. Es bleibt uns Männern immer etwas rätselhaft und ein holdes Schauspiel.“
Kein Kuss also, schon gar kein französischer, dafür die Fantasie, dass Wächter das Objekt seiner keuschen Begierde mit weißem Hühnchenfleisch füttern möchte … und das, wenn es nach ihm ginge, vielleicht besser jung und unschuldig sterben sollte.
Während ich den Träumerle-Dude anschreien möchte, dass seine Angebetete auch Verdauung hat und mehr ausscheidet als blaue Testflüssigkeit, versteigt er sich dazu, dass Lotte bitte nie, aber auch wirklich niemals nie, in den haarigen Armen eines hageren Südländers einen Orgasmus haben möge:
„Die Wollust ohne Leidenschaft. Ich sah ihren Kopf zurückgeneigt und statt des seligen Lächelns den Krampf an ihren Lippen erscheinen, der die Mundwinkel herabzieht, die Nasenflügel in süßer Angst zittern macht, die Augen bricht.“
(Die Vermutung liegt nah, dass die Frauen, mit denen der Autor schlief, sich auf die Nachahmung eines sterbenden Hasentiers verstanden.)
Und dann – mon dieu, quel drame! – taucht Pamela auf, die moralisch fragwürdige Engländerin, die Lotte unter ihre Fittiche nimmt und sie zu einem Ball einlädt, bei dem Frauen zum allgemeinen, möglicherweise gar eigenen Amüsement die Hüllen fallen lassen:
„Aber Pamela meint: man muß nur mutig hingehen; wir brauchen nicht in der Loge zu bleiben. Sie will mit mir durch alle Gefahren hindurchtanzen.“
War’s das jetzt mit der Unschuld? Gerade noch rechtzeitig nimmt sich Lily, eine andere Freundin von Lotte, das Leben, was der jungen Deutschen zeigt, dass es a) lebensverlängernd sein könnte, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben, und es b) Zeit wird, nach Berlin zurückzukehren. Und Wächter? Findet das nicht so knorke … und platzt damit heraus, dass er einer Eheschließung nun doch offen gegenüberstünde. Aber Lotte lehnt ab, denn sie weiß:
„Ich will lieber unglücklich sein als mich an dir versündigen.“
„Versündigen?“
„Behalte das Bild lieb, deinen Knaben vom Kinderball.“
So verabschieden sich die beiden, damit endet die Geschichtet, und als Happy-End-versiffter Leser bleibe ich mürrisch zurück: Wächter, was für ein Trottel! So sehr in Paris verliebt, in das eigene träumerische Sein … aber nicht in der Lage, über seinen Schatten zu springen, wie Lotte ihm an den Kopf wirft:
„An das Unerwartete wagen Sie sich nicht heran, Sie wollen nicht mehr lernen. An alles Seltsame glauben Sie, aber nicht an das Wunder.“
(An Wunder? Das wird gleich auch noch wichtig, das Wunder, an das man glaubt … oder eben nicht.)
PARISER ROMANZE von Franz Hessel hat mir kein Vergnügen bereitet – und dann wieder doch
Eine romantische Überhöhung der Frau, die damit einhergehende Objektifizierung, und das alles als Weg, um den Empfindungsraum eines Mannes auszuloten – ja, nun, kann man machen. War 1920 vielleicht sogar progressiv? Aber ein wenig frage ich mich, ob mich das heute noch interessieren muss.
Wer gebildeter ist als ich, wem es leichter fällt, sich auf Texte einzulassen, die nicht in unserer gefühlten Gegenwart entstanden sind (also so seit 1970), der wird vermutlich schon beim ersten Lesen Vergnügen an der PARISER ROMANZE gefunden haben, an seiner Sprache und sicher auch am Protagonisten, der nichts dafür kann, dass man sein Frauenbild heute problematisch empfinden mag. Wobei ich mir die Frage, ob dies auch die Sichtweise des Autors spiegelt, vielleicht zu schnell beantwortet habe? Denn durch das bereits erwähnte Nachwort erfahren wir, dass es Parallelen gibt zwischen dem Leben des in Liebesdingen gar nicht so altmodischen Franz Hessel und dem, was er in seinem schmalen, auf 112 Seiten erzählten Roman festgehalten hat.
Während ich darüber nachdachte, fiel mir dieser Satz wieder ein: Lottes Vorwurf, dass Wächter nicht an Wunder glaube. Warum glockenspielte das laut in meinem Kopf? Wegen der Textzeile aus dem Gedicht REZEPTE von Mascha Kaléko:
„Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im großen Plan.“
Hier eine Lyrikerin, die das Wunder als Triebfeder des Lebens versteht – da ein Protagonist, der davor zurückschreckt, geschrieben von einem Mann, der zwar Autor war, aber von seinem Verleger Ernst Rowohlt (hold your knickers, here it comes!) auch als Lektor angestellt wurde. Und zu den Autor*innen, die Franz Hessel betreut hat, gehörte … Mascha Kaléko.
Plötzlich konnte ich sie sehen, die Geschichte, die PARISER ROMANZE nicht erzählt jenseits der Brooding-Dude-Erinnerungen: Die Geschichte von Lotte und ihrer Neugier, von der skandal-bereiten Pamela, der unglücklichen Lily und von Frau Herta, die etwas in Wächter sieht, was er selbst nicht begreifen kann.
Ist PARISER ROMANZE möglicherweise moderner, als ich Leser von geringem Verstand es zunächst angenommen habe?
Also habe ich den schmalen Band noch einmal gelesen … und mit dem Hot Girl Summer im Hinterkopf gewinnt die Verklärung von Paris eine neue Dimension, die Dusseligkeit von Wächter, aber auch die Moderne einer Zeit, die noch nicht wusste, welche beiden Katastrophen am Horizont aufzogen, um sie zunichte zu machen. Noch dazu bin ich seltsam berührt von dem Wissen, dass Hessel, der Frankreich so liebte, dort nach seiner Flucht vor den Nazis in einem Internierungslager landete und später mit gerade mal 60 Jahren an den Folgen der Haft verstarb.
Neugierig geworden? Das würde mich freuen. Versprochen, man kann PARISER ROMANZE auf zwei verschiedene Arten lesen und lieben – und sich noch dazu erfreuen an der vom Lilienfeld-Verlag in seiner Reihe Lilienfeldiana ausgesprochen schön ausgestatteten Halbleinen-Ausgabe mit Lesebändchen.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.
Franz Hessel: PARISER ROMANZE. PAPIERE EINES VERSCHOLLENEN. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Lilienfeld Verlag, 2019.
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