Arno Frank erzählt in seinem neuen Roman von einem Ort, wie es viele gab in Deutschland

„Am Morgen hatte der Senner erklärt, dass die schwächste Kuh der Herde, tagsüber gemieden und getreten von den übrigen Tieren, im Schutz und in der Einsamkeit der Nacht umso bedrohlicher gegen die Welt und die Dunkelheit ringsum klagte. – Vielleicht, dachte Merle, ist das Unglück die Lücke, durch die das Tückische in die Welt kommt. Er bemächtigt sich der Geschwächten und geplagten, schenkt ihnen eine tiefe Stimme, einen bedrohlichen Ton, eine neue Sprache mit neuen Vokabeln, denen nichts Menschliches mehr anhaftet.“

Manchmal ist es leicht, ein Buch auf unterschiedliche Arten zu sehen – manchmal schieben sich die verschiedenen Blickwinkel so übereinander, dass es unmöglich ist, sie zu trennen … und für sich zu entscheiden, ob man das, was man gelesen hat, gut findet. Oder eben nicht.

GINSTERBURG: Zwei Seelen, ach, in meiner Brust. Sicher auch, weil ich ein Fan der Vorgänger bin – wie Arno Frank in SO, UND JETZT KOMMST DU über seine Kindheit und seinen Vater schreibt, hat mich 2017 beeindruckt, und kaum ein anderer Roman hat mich 2023 so beglückt wie SEEMANN VOM SIEBENER. Zwei unterschiedliche Bücher, das eine Autofiktion, das andere ein Ensemblestück, und umso gespannter war ich, mit was der Autor mich nun begeistern würde. (Erwartungshaltung, I said it before, ist eine Fußangel, die man sich selbst in den Weg wirft.)

Den Lobgesang auf GINSTERBURG kann man so anstimmen: Arno Frank setzt 160 Städten und 650 Gemeinden, die im Zweiten Weltkrieg „für alle Zeiten ihr Gesicht verloren haben“ ein Mahnmal, das den Wahnsinn des Krieges ebenso für uns erfahrbar macht wie das schleichende Gift von Nationalstolz und einer Empathielosigkeit, von der offen bleibt, ob sie blauäugig ist oder kaltherzig. Frank lässt uns in den Jahren 1935, 1940 und 1945 in das Leben unterschiedlicher Menschen eintauchen – in das der Mitläufer, Profiteure und Täter, aber auch der „Unschuldigen“, die in der Minderheit sind wie kleine Lichter in einem Meer aus Dunkelheit.

BLUMIG UND BRUTAL

Arno Franks Erzählstil wirkt oft sprachverliebt, fast blumig, greift hier ein erzählerisches Mittel auf wie ein Foreshadowing oder eine Satzstruktur, um Abschnitte einzuleiten, nur um sie im nächsten Kapitel wieder zu vergessen; so entsteht eine Melodie, die eigen ist, aneckt, auf stimmungsvolle Art antiquiert wirkt, ohne alte Texte bewusst zu kopieren.

Der Autor weiß genau, wie er sein Publikum lenkt, wie er unser Mitgefühl und unsere Wut, Abscheu und Trauer orchestriert und so auf einen donnernden Klimax hinarbeitet. Durch die von ihm auf die Bühne gestellten Archetypen kommt uns das Leiden, Hoffen, die Kaltblütigkeit und das Morden schrecklich bekannt vor – und so zeigt er ohne mahnenden Zeigefinger, dass der Abgrund, in den die Welt damals taumelte, auch heute nur „einen Fliegenschiss“ entfernt ist.

Besonders gelungen ist Arno Frank die Figur des Lothar, dem wir als sensiblen Jungen mit Faszination für alles Fliegende das Beste wünschen, der als junger Mann zeigt, wie blind man sein kann für das, was man tut (hier sei ein Spaziergang durch Paris erwähnt, bei dem man gemeinsam mit ihm fast vergisst, dass er kein sympathischer Tourist ist, sondern der Repräsentant einer brutalen Eroberungsmacht) … und Lothar ist es auch, der später unbewusst alles weiß, was er sich selbst zu begreifen verbietet. Wir alle haben die Hoffnung, in der damaligen Zeit Widerstand geleistet zu haben; die Wahrheit dürfte sein, dass es anders gekommen wäre.

Und so ist GINSTERBURG in dieser Lesart ein gelungener, vielleicht wichtiger Roman, der uns daran erinnert, was alles mitgemeint ist, wenn uns ein „Nie wieder“ leicht über die Lippen geht.

Ich freue mich für alle, die den Roman feiern: GINSTERBURG hat mich begeistert – leider aber auch enttäuscht. Weswegen ich ab diesem Punkt auch nicht auf SPOILER verzichten kann.

ENDE GUT, ALLES GUT? NEE …

Arno Frank setzt die Schockmomente so zielsicher wie am Ende des Buchs die Bomben – und es war für mich eine interessante Erfahrung, dass mir das Sterben von Kröte, Hund, Kranichen und Ameisen näher gegangen ist als das ebenso sinnlose, aber in gewisser Weise selbst herbeigeführte Sterben auf einem U-Boot. Und es ist sehr geschickt gebaut, dass man die plakativ Nazi-betörte Gesine hasst und doch stolz sein möchte auf ihre große Liebe Lothar, der als Pilot für seine „Abschüsse“ gefeiert wird, weil wir geneigt sind zu vergessen, dass hinter diesen Menschenleben stehen. Natürlich wünscht man sich als Leser, dass Lothar – am Ende deutlich gebrochen – den Roman überlebt. Ob er es tut? Arno Frank lässt dies durch einen erzählerischen Kniff offen … oder auch nicht ***. Denn am Ende, und das wissen wir von Anfang an, endet das Buch mit der Auslöschung von GINSTERBURG und seiner Bewohner.

((*** Ich greife eigentlich nicht rückwirkend in meine Rezensionen ein, in diesem Fall schon – weil ich ein paar Wochen nach dem Schreiben der Rezension nun weiß, dass es den Piloten Lothar Siebert wirklich gegeben hat und er definitiv bei einem Testflug, der im Buch beschrieben wird, ums Leben gekommen ist. Arno Frank hat sich aber – vermutlich – diverse Freiheiten bei der Gestaltung seines Protagonisten erlaubt.))

Es ist genau dieses Final, das es mir fast schwer macht, den Roman ernst zu nehmen: Ich hatte nach den ersten beiden Teilen des Buchs den Eindruck, mich im dritten plötzlich in einer Wager-donnernden Operette von Quentin Tarantino wiederzufinden, in der neben einer Frau, die auf der Suche nach Erlösung flammend durchs Inferno stolpert, auch eine SM-begeisterte Marlene Dietrich-Kopie Gas gibt. Das kann man kreativ und kreatürlich finden; bei mir hinterlässt es Fragezeichen. Auch, weil der britische Pilot, von dem wir aus dem Prolog wissen, dass er über Ginsterburg abgeschossen wird, zwar noch einen Auftritt hat, dann aber ebenso aus der Handlung verschwindet wie viele andere. Ist das ein schlauer erzählerischer Schachzug des Autors, mit dem er erlebbar macht, dass in Zeiten des Krieges viele Fäden abgeschnitten werden, viele Ideen nicht weiterverfolgt?

Ja, ich kann verstehen, warum eine Figur wie die Hellseherin Zola Vovoni im ersten Teil des Buchs zentral ist, im zweiten nur noch für einen Schockmoment benutzt und im dritten nicht mehr erwähnt wird. Oder warum der Autor beim verlässlichen Abhaken der Diskriminierungsgründe nach einem sich quälend langsam anbahnenden Euthanasie-Fall auch noch Homosexualität einbaut, während er das Leiden jüdischer Menschen im Off stattfinden lässt. Aber das alles lässt mich am Ende unbefriedigt zurück … und mit einer Frage, die mich nicht mehr losgelassen hat:

Hat ein Autor die Aufgabe, originell zu sein? Von sprachlichen Schnörkeln abgesehen ist GINSTERBURG dies eindeutig nicht: Arno Frank collagiert, was wir aus unzähligen Büchern und Filmen kennen; ein Schelm, wer die Verbindung sieht, dass das wenig gelungene KI-Bild auf dem Umschlag auch nichts anderes ist als ein Amalgam aus anderen Werken. Vielleicht ist es unmöglich, über die Zeit des NS-Horrors noch etwas Neues, Überraschendes zu schreiben? Vielleicht verbietet es sich sogar, um das, was geschah, nicht zu trivialisieren, heroisieren oder zu einer Alternativrealität zu machen. Ich weiß es nicht. Ihr?

UND EIN ABSCHLIESSENDES URTEIL?

Vielleicht bin ich ungerecht: So wie auch SEEMANN VOM SIEBENER eine Momentaufnahme und Gesellschaftsstudie war, ist GINSTERBURG nichts anderes. Dass das eine mich begeistert hat, während mich das andere zwiegespalten zurücklässt, ist daher möglicherweise eher mein Problem als das des Romans.

Ein letztes Wort? LESEN. Das lohnt auf jeden Fall. Und sei es nur, um sich einmal mehr wachrüttelt zu lassen (noch dazu von einem sehr guten Autor) – und uns vor Augen zu führen, dass „Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten“, wie es im Rückseitentext steht, ein Ding der Unmöglichkeit ist … aber auch eine Hoffnung, die wir nie aufgeben dürfen.

***

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar vom Verlag bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Arno Frank: GINSTERBURG. Klett-Cotta Verlag, 2025