Ein Dorf an der irischen Küste: Klingt „cosy“, ist es aber nicht
„Sie waren nie befreundet gewesen, aber Izzy hatte stets Wert darauf gelegt, ein paar Worte mit Colette zu wechseln. Selbst wenn die Unterhaltung nur ein paar Minuten dauerte, war es, als würde man ein warmes Bad in ihrem Charme, ihrer Herzlichkeit und guten Laune nehmen. Aus ihrem Blick sprachen eine Begeisterung und eine Intelligenz, die einen in den Bann zogen, und Izzy fühlte sich nach diesen Begegnungen immer gestärkt. Doch heute klangen Collettes Worte einstudiert. Und kein Lächeln, das ihr übers Gesicht huschte, konnte den stumpfen Glanz aus ihren Augen vertreiben.“
Wie bricht man einen Menschen? Durch Drohungen, durch Folter – aber auch durch Alltag in seiner misogynen Form, durch die trügerische Annahme, dass manche Dinge „gottgegeben“ sind. Für die Frauen, denen wir im County Donegal an der Nordküste von Irland begegnen, bedeutet das Mitte der 1990er Jahre, dass sie ihren Männern gehorchen. Sie könnten gehen, natürlich. Aber es ist nicht nur das Gesetz, das eine Scheidung verbietet. Und darum ist natürlich auch die Frage: Müssen Frauen in ihre Schranken gewiesen werden, wenn sie gar nicht glauben, diese verlassen zu können?
Eine, die trotzdem den Mut findet, ist Colette Crowley – und dass sie ihre Familie im Stich gelassen hat, um sich in Dublin „zu vergnügen“, ist für die Bewohner des Küstenorts Ardglas bester Klatsch. Besonders, als Colette im Oktober 1994 zurückkehrt, aber ein heruntergekommenes Cottage bezieht, weil ihr Mann jeden Kontakt zu ihm und den Kindern unterbindet. Was Colette braucht, sind Verbündete. Aber kann sie auf Izzy Keaveney hoffen?
(Ab diesem Punkt kommt meine Rezension nicht ohne SPOILER aus – wer COAST ROAD von Alan Murrin noch für sich entdecken möchte, sollte nicht weiterlesen.)
Leider muss man sagen: nein, kann sie nicht. Oder nur bedingt; es ist kompliziert.
ZWEI FRAUEN. JEDE MENGE PROBLEME.
Izzy hat es auch nicht leicht in ihrem zumindest materiell versorgten Leben, wobei offen bleibt, ob ihre Depressionen die Grundlage der Probleme sind oder ein Ergebnis derselben: Mit ihrer Tochter streitet sie, ihr Sohn ist zu sensibel für die Welt, und ihr Mann hat gerade wieder eine Karrierechance verpasst, weil er weder den richtigen Nachnamen trägt noch das Selbstbewusstsein besitzt, um sich durchzusetzen. Stattdessen ist er darauf bedacht, immer „das Richtige“ zu tun, auch wenn das in seinen Augen bedeutet, Izzy den Wunsch nach einem Job zu verwehren; damit, dass sie schmollend ins Gästezimmer umzieht, kann er umgehen.
Izzy hat sich in die ihr zugedachte Rolle gefügt – und deswegen ist Colette eine Provokation für sie: Die schöne Dichterin, die denkt, sie kann zurückkommen, um ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Und doch nähern sich die Frauen an, denn ihre Söhne sind befreundet, und Colette sieht die Chance, ihr Kind bei heimlichen, von Izzy organisierten Treffen zu sehen. Als dies herauskommt, wäre das der richtige Moment für echte Solidarität … aber zu der ist Izzy nicht in der Lage.
Und Colette? Die befindet sich in einer scheinbar ausweglosen Situation, ohne Geld, ohne Halt, den sie mehr als alles andere braucht. Trost findet sie im Alkohol … und beim falschen Mann. Der attraktiv Donal ist Handwerker und Hausfrauen-Beglücker, ein toxischer Charakter, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, weil er denkt, dass ihm mehr zusteht, als das Leben ihm bisher gegeben hat.
(Und wer nun weitergelesen hat, sei noch einmal gewarnt: SPOILER AHEAD!)
Donal beginnt, Colettes Leben zu kontrollieren, er begehrt sie, er verachtet sie, obwohl – oder weil – er sie besitzen will. Und als er erfährt, dass sie von ihm schwanger ist? Bringt er sie um.
Mit dieser Entwicklung habe ich nicht gerechnet, was auch daran liegt, dass ich Alan Murrins Roman zunächst falsch eingeschätzt habe. Für mich las sich COAST ROAD zu Beginn wie ein Roman von Maeve Binchy, der Grande Dame der irischen Unterhaltung, bei der auch nicht alles so himmelblau zugeht, wie man denken mag. Das emotionale Gewitter zog langsam auf, und bei dem geht es um weit mehr als darum, dass Irland kurz vor einem Volksentscheid zur Legalisierung von Scheidungen steht (Side Note: das entsprechende Gesetz wurde mit knapper Mehrheit verabschiedet).
COAST ROAD erzählt von der alltäglichen Grausamkeit einer frauenfeindlichen Gesellschaft, von männlicher Schwäche und Machtanspruch, aber auch von fehlender Solidarität unter Frauen. Colettes Leiden soll – und wird – uns Lesende berühren, obwohl mir die Figur nicht nahegekommen ist. Izzy hingegen ist durchaus eine (sorry!) blöde Kuh, die über „weiche“ Priester (ob nun schwul oder nicht) lästert und ihrer Freundin letztendlich nicht beisteht; trotzdem fällt es leicht, sich mit ihr anzufreunden. Dass sie am Ende des Buchs gleich zweimal das Richtige tut, ist schön, aber ich frage mich, ob Alan Murrin dadurch zu sehr auf ein versöhnliches Ende hingearbeitet hat: Natürlich möchte ich Leser von geringem Verstand jubeln, wenn Izzy erkennt, dass Hinnahme nicht gleichbedeutend ist mit Resignation, und wir ahnen können, dass sie ihr Leben doch noch in eigene Hände nimmt … aber so ganz gelingt es mir nicht.
Trotz der ernsten Themen ist COAST ROAD ein Roman, in den man sich fallen lassen kann – hat Murrin möglicherweise das Genre „Rough Cosy“ begründet? Ich habe die augenfreundlich gesetzten 379 Seiten in kürzester Zeit gelesen, was auch an der fließenden Übersetzung von Anna-Nina Kroll liegt. Aber vor allem stimme ich THE SUNDAY TIMES zu: „Jeder Buchclub wird große Freude an diesem […] Roman haben.“ COAST ROAD ist ein Buch, über das man sprechen und diskutieren möchte; ein Buch, das auch deswegen richtig ist im Frühjahr 2025, weil es mahnt, über den eigenen Tellerrand zu schauen, um Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen.
(Abschließend und in Klammern noch der Hinweis, dass dieses Buch mit Lesebändchen und bedrucktem Einband schön ausgestattet wurde – auch wenn mir unwohl dabei ist, dass es sich bei dem vom Atelier Anzinger und Rasp verwendeten Motiv um eine mit Hilfe von KI erstellte Grafik handelt.)
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Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar vom Verlag bekommen, da ich im Auftrag der Zeitschrift EMOTION eine (Kurz-)Rezension geschrieben habe. Bei meiner Rezension hier handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Alan Murrin: COAST ROAD. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. dtv, 2025
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