Für mich Leser von geringem Verstand leider nicht ganz überzeugend
„Nicht wegen des Aufwands und der Bürokratie empfand die Iglhaut die jährliche Steuererklärung als Zumutung, nein, so weltfremd war sie nicht. Doch wie die jüngste Vergangenheit dort auf ihren Zetteln zusammenschnurrte, dass Erinnerungen – an Arbeit, an Vergnügen – sich daran messen lassen mussten, ob sie eine gute Bilanz ergaben, ging ihr ernsthaft gegen den Strich. Mit diesem klaren Blick betrachtet, war ihre derzeitige Lebensweise ein noch größeres Minusgeschäft.“
Ihren Vornamen erfahren wir nicht in diesem Jahr, das sich vom Winter bis zum Herbst spannt, und auch sonst hält „die Iglhaut“, Hauptfigur in Katharina Adlers zweitem Roman, uns auf Abstand: Wir erleben zwar mit, wie ihr die Zähne Probleme bereiten und sie als Touristin keine rühmliche Figur abgibt, wie sie eine Niere spendet, drei Heiligenfiguren restauriert und einen Nachbarn erst dann mit Fäusten schlägt, nachdem sie es nicht geschafft hat, dies mit Worten zu tun … aber wirklich nah kam sie mir (kam mir das alles) nicht.
Das liegt zum einen daran, dass die Autorin wenig Interesse daran zu haben scheint, in die Tiefe zu gehen – die Iglhaut und ihr aus Überzeugung vegetarischer Hund namens Kanzlerin, ihr ehemaliger und ihr womöglich neuer Freund, ihre Eltern und die Nachbarn, die auf- und abtreten wie in einem aus den Fugen geratenen Kammerspiel, sie sind alle trotz mitunter starker Präsenz im nächsten Moment schon flüchtig, als wären sie nur hingetupft worden.
Zum anderen liegt es auch an der Erzählweise der Autorin, die gerade zu Beginn ein Vergnügen ist in ihrer mitunter stachelig glänzenden Verschrulltheit: Sie wirkt zwar immer authentisch und erstarrt nicht zur Pose, schien mir als Leser von geringem Verstand aber zunehmend ein verspielter Selbstzweck zu sein und weniger ein gezielt eingesetztes Mittel.
Es gibt hinreißende Sätze in diesem Roman, die vergnügt auf dem schmalen Grat zwischen Postkarten-Weisheit und Brillanz tanzen – von der Übertreibung, die das Rouge auf den Wangen des Alltags ist, bis zum „Funierwort“ Authentizität (= von außen betrachtet vielsagend, billig aber im Kern). Und es gibt wunderbare Figuren, über die ich so gerne mehr erfahren hätte – allen voran über die Männerwaden-genießende Nonne, die gerne im Café anschreiben lässt (sich dann aber moralinsauer aus der Handlung verabschiedet), und den sexy Herakles samt Frau Mama; hier hätte mehr Hinwendung zum Genre mein Herz deutlich mehr erfreut als die Katzenminze fürs Feuilleton (also: die Sprung- und Schlaglichthaftigkeit; das ehrenwerte, aber für mich zu gewissenhaft wirkende Abhaken der Diversity-Checkliste; die Figur der um ihr nächstes Buch ringenden Autorin).
Ohne Brecht bemühen zu wollen, hatte ich beim Zuklappen des Buchs nach 280 leichtgängigen Seiten ein wehmütiges Gefühl von „der Vorhang zu und alle Fragen offen“, allerdings ohne Enttäuschung oder Betroffenheit. Aus welchem Grund auch immer hatte ich einen Roman erwartet, der mich ähnlich erobern würde wie WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN; mit IGLHAUT habe ich nun eins bekommen, das mir auf abstrakter Ebene so gut gefallen hat wie der gelungene Schutzumschlag und der allerliebte Farbclash von Einband und Lesebändchen … und mich auf der emotionalen Ebene enttäuscht zurückließ. Aber gerade das macht mich nun neugierig (hungrig gar und vielleicht vorfreudig?), was Katharina Adler als Nächstes schreiben wird.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Katharina Adler: IGLHAUT. Rowohlt Verlag, 2022.
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