Vielleicht hat Lena Schätte einen der besten Romane der Saison geschrieben. (Und vielleicht kann man das „vielleicht“ streichen.)
„Von Anfang an habe ich kein Interesse daran, nur ein bisschen zu trinken. Ich sitze nicht mit Freundinnen zusammen, um ein oder zwei Vino aus hübschen Kristallgläsern zu trinken. Von Anfang an möchte ich besoffen sein. Ich trinke mich an den Punkt heran, an dem alles gleichgültig wird. Die Welt weit weg und dumpf scheint, ich mir selbst von außen zusehe. […] Es ist wie eine Narkose. Ich steige aus mir heraus und lasse die Leute mit meinem Körper allein.“
Ihr Vater nennt sie Motte – und Motte liebt ihn mit ungebrochener Intensität seit Kindertagen. Auch wenn ihre beste Freundin sich erschrickt, weil er besoffen vor der Toilette liegt. Wenn die Mutter ihn rauswirft und doch wieder aufnimmt. Wenn er sich nicht retten kann vor seiner Sucht – und auch nicht gerettet werden will, als sein Körper kapituliert. Und wer bis hierhin gelesen hat, der hat vermutlich schon erkannt: Heiter ist dieser Roman nicht, ganz im Gegenteil.
Und doch ist DAS SCHWARZ AN DEN HÄNDEN MEINES VATERS kein niederschmetterndes Buch.
Ja, Lena Schätte erzählt in 64 schlaglichtartigen Kurz-Kapiteln präzise und schonungslos von einer Familie, die sich im Würgegriff des Alkohols befindet – der Vater trinkt, die Tochter wird es auch tun, und schon in der Generation davor hat die Sucht nach Rausch und Selbstauflösung fatale Folgen gehabt. Die Autorin leuchtet das alles aus: die Hilflosigkeit der Ehefrauen, die kalten Reaktionen der sogenannten „Mitmenschen“, die genau das nicht sein wollen, weder „mit“ noch „menschlich“. Lena Schätte prekariat-romantisiert nichts, und wenn es tatsächlich so etwas wie einen weichen Moment gibt, weil eine Jacke an einen Haken gehängt wird und dort als Erinnerung an einen Verstorbenen eine stille, melancholische Schönheit hat, ist das nur von kurzer Dauer.
EIN BUCH WIE EIN RAUSCH
Lena Schätte schreibt über den Alkoholismus von Männern – und über den ihrer Hauptfigur. Die trinkende Frau: Warum löst sie bei vielen Menschen eine größere Ablehnung aus, warum ist der Trinker lange Zeit eine traurige Heldengestalt und die Trinkerin vom ersten Kontrollverlust an eine Unperson? Die Autorin tippt das an … und ist im nächsten Moment schon wieder bei einem anderen Gedanken, bei einer anderen Szene und auf einer anderen Zeitebene.
Die literarische Wucht von DAS SCHWARZ AN DEN HÄNDEN MEINES VATERS entfaltet sich zum einen durch die Geschichte, zum anderen durch die Konstruktion: Vorblende und Rückschau, die unmittelbar aufeinander folgen, der Fokus auf die eine, dann die andere Figur, das alles wirbelt wie in einem Sturm durcheinander, nach dem alles an genau die Stelle fällt, an der wir es brauchen, um uns immer tiefer in die Handlung ziehen zu lassen.
Die bereits erwähnten kurzen Kapitel laden dazu ein, immer schneller zu lesen, noch eins und noch eins, aber davor sei gewarnt: Lena Schätte hat einen Roman geschrieben, den man langsam lesen sollte – und dabei auch genießen kann, trotz all dem Schmerz, den wir miterleben, der Entwurzelung und dem Arschloch, das man Determinismus nennt. Trotz Übel- und Besinnungslosigkeit, trotz der Abgerockheit einer Autobahnraststätte und der Kindergeburtstagseinladung, die zurückgenommen wird, gibt es sie auch, die Momente und Gedanken, die von ruppiger Wärme und Schönheit geprägt sind. So wie dieser, der mich seitdem in seiner Wut und Verzauberung begleitet: „Meine Mutter nennt meinen Vater unseren Erzeuger. Ich stelle mir unsere Körper wie leuchtenden Strom vor und meinen Vater, der auf einem festgestellten Fahrrad schwitzend strampeln muss, damit es uns gibt.“
ACHTUNG, JETZT WIRD’S FEUILLETONISTISCH!
„Wie kann man so gut schreiben“, habe ich mich immer wieder gefragt, und natürlich liegt es nah, die Autobiographie der Autorin zu bemühen – Krankenschwester in der Psychiatrie, Arbeit mit Suchtkranken, und wahrscheinlich greift sie auch auf eigene Erfahrungen zurück? Kann man alles anführen und ausleuchten, ja. Aber abgesehen davon, dass ich dies übergriffig finde – und das unterstellen würde, dass eine Autorin den Bauchnabel mehr braucht als das Einfühlungsvermögen, um zu großer Form aufzulaufen –, habe ich mir diese Fragen gar nicht gestellt: DAS SCHWARZ AN DEN HÄNDEN MEINES VATERS ist so ein Brett, so ein Burner (um mal total feuilletonistische Begrifflichkeiten ins Spiel zu bringen), das man auf sich hereindonnern lassen kann wie die Kraft eines großes Gemälde, bei dem man sich auch nicht fragt, woher die Farben stammen.
Ich hoffe, dass der Verlag den Roman von Lena Schätte für den Deutschen Buchpreis 2025 eingereicht hat – und die Jury erkennt, dass dieses Schmuckstück einen Platz auf der Longlist verdient. Denn in der Geschichte über das Auseinanderbrechen einer Familie, die gleichzeitig nicht bereit ist, sich loszulassen, schwingt so viel mit, was uns beim Lesen durchrüttelt … aber auch den Blick schärft für die Stolpersteine, die uns und anderen in den Weg gelegt werden.
Zugegeben: Irgendwie möchte ich endlich mal wieder ein heiteres Buch lesen! Aber das Glück, dass ich beim Lesen von DAS SCHWARZ AN DEN HÄNDEN MEINES VATERS gefühlt habe, ist vielleicht sogar eine ganz besondere Form von Sonnenschein.
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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern von einer Freundin, die beim Verlag arbeitet, geschenkt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Lena Schätte: DAS SCHWARZ AN DEN HÄNDEN MEINES VATERS. S. Fischer Verlag, 2025
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