Ein schwules Coming-of-Age ist nicht immer so sweet wie bei „Heartstopper“

„Ich hatte zwar tatsächlich einen leichten Kater, aber hauptsächlich beschäftigt mich etwas anderes. ‚Welche Art Sau willst du sein, wenn du mal groß bist?‘ Ich hatte keine Ahnung. Wollte ich überhaupt eine Sau sein? Und kann man sich das aussuchen?“

Glaubt man George Bernhard Shaw, ist die Jugend das Wertvollste im Leben – und „es ist schade, dass sie an junge Leute verschwendet werden muss“. Während ich JETZT SIND WIR JUNG las, den ersten Band einer Trilogie über die neuen Leiden des Anfang-20-jährigen Felix Lipfels, drückte ich mir diese Lebensweisheit wie ein kühlendes Tuch auf die zwischenzeitlich zornesheiße Stirn: Tatsächlich schien dieser Roman mich immer wieder dazu verführen zu wollen, ihn im hohen Bogen aus dem Fenster zu werfen … wenn ich nicht stets kurze Zeit später wieder gemerkt hätte, dass ich ihn verblüffenderweise doch mochte und gerne gelesen habe. Was das mit gefallen Hausaltarheiligen und dem diesjährigen Gewinner des Deutschen Buchpreises zu tun hat? Fasten your seatbelts, it’s gonna to be a bumpy ride.

Räumen wir erst einmal den Inhalt aus dem Weg: Im Supermarkt sieht Felix seinen Exfreund – aber wann ist der nach Hamburg zurückgekommen? Felix vermutet, dass Martin auf die Party der Drag Queen Tamara Testicles gehen will. Die ist in zwei Wochen, also mehr als genug Zeit für Felix, sich zu erinnern an das, was ihn damals in die Arme von Martin geführt hat … und uns Lesende rätseln zu lassen, was der Grund war, dass seine erste große Liebe ihn sitzenließ.

Coming-of-Age-Geschichten, insbesondere die schwulen, folgen Genre-bedingt bekannten Mustern, von denen ich die allermeisten ermüdend finde. Daher kann man es Julian Mars hoch anrechnen, dass er ein paar ausgelassen hat – wie z.B. die physische und psychische Gewalt, durch die Protagonisten sonst „reifen“ müssen, oder den hoffnungslosen Crush für den megasexy Unerreichbaren, der am Ende vielleicht doch nicht ganz so unerreichbar ist (und, hurra, es stirbt auch niemand an AIDS). Hinzu kommt, dass Felix, anders als z.B. Nick Nelson und Charlie Spring, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch im Vollbesitz eines funktionstüchtigen Unterleibs ist, der den 17-jährigen zum Star eines lokalen Sexclubs macht. Wir bewegen uns also nicht in kuscheligen HEARTSTOPPERS-Gefilden für ein weibliches Publikum, das schwule Männer fetischisiert und „süß“ findet, sondern auf einem nicht nur schweißfeuchten Abenteuerspielplatz, was durchaus Applaus verdient, mich aber auch bei einem meiner Probleme ankommen lässt:

Ich bin voll und ganz für Sex Positivity, und als alter weißer Mann kann ich mich der Überzeugung nicht erwehren, dass die Spielregeln zwischen zwei Kerlen auch ohne vorherige Absprache andere sind als zwischen Heterosexuellen (= das sind, es sei nur zur Sicherheit erwähnt, jene Menschen, die das jeweils andere Geschlecht sexuell interessant finden, ihr habt sicher schon einmal davon gehört). Trotzdem hat es mich unangenehm berührt, wie hier gewaltvoller Sex zur Normalität erklärt und die Auseinandersetzung mit den Polen „Dominanz“ und „Unterwerfung“ vereinfacht wird. „Früher hat man immer gesagt, es ist schlecht, wenn Jugendliche Pornos gucken, weil ihnen da völlig verzerrte Vorstellungen von Sex vermittelt werden“, schreibt Mars: „Dabei ist das Quatsch, inzwischen zumindest. Der echte Sex hat den in den meisten Pornos längst eingeholt. Wir sind alle zu Hochleistungsfickern geworden, die jeden Muskeln anspannen und den Bauch einziehen […]. Könnte ja jeden Moment schon eine Kamera draufhalten.“

Natürlich braucht der Autor dieses Extrem, um Felix‘ spätere Entwicklung zu ermöglichen … aber mir drängte sich der Gedanke auf, dass es hier vor allem darum ging, das Kernklientel auf einer Ebene zu stimulieren, die eher nicht die intellektuelle ist. Was vollkommen okay wäre, mich aber mit der Frage zurücklässt, ob der Autor nicht anders wollte – oder nicht anders konnte.

In diversen Rezensionen haben sich die Lesenden für das Personal des Romans begeistert – und auch hier habe ich eher ein Fragezeichen über dem Kopf als ein Lächeln auf den Lippen: Mit dem Heraklit-zitierenden Gabriel, der aus Prinzip keine Kondome verwendet, und Emilie, der hanseatischen Antwort auf Paris Hilton, setzt Julian Mars seinem Felix zwei Stichwortgebende an die Seite, deren Hauptaufgabe es über weite Strecke zu sein scheint, ihn in seinem mutmaßlich aus Queer Shame geborenen Homo-Hass zu unterstützen – denn von allem, was keiner heteronormativen Werbeoptik entspricht, hält der selbstverständlich breitenwirksam attraktive Nachwuchs-Faun wenig. Sein enges soziales Umfeld erklärt er übrigens damit, dass Freundschaften für Homosexuelle generell schwierig sind, weil der Sex auf die eine oder andere Art immer im Weg steht … und übersieht dabei, dass er vor allem das ist, was ich sehr zugewandt und freundlich als „kleine arrogante Arschkrampe“ bezeichnen würde. (In diesem Zusammenhang sei aber nicht verschwiegen, dass Julian Mars einige sehr gute Ideen hat, was den Rest des Ensembles angeht – von der schwermütigen Mutter bis zu den zwar heillos übertriebenen, gerade deswegen aber hervorragend funktionierenden Vätern von Felix und Emilie.)

Nun muss ein Autor ganz sicher nicht der Erfüllungsgehilfe seines Publikums sein; ich mag es, mit Ideen und Gedanken konfrontiert zu werden, die ich noch nicht kenne, und was wäre das Leben und Lesen ohne Provokation? Aber irgendwann fragte ich mich doch, ob hier Figuren agieren, weil der Autor sich das so für ihre Charakterisierung zurechtgelegt hat … oder ob er sie zum Sprachrohr seiner eigenen Überzeugungen macht. Als Leser von geringem Verstand bin ich durchaus der Meinung, dass man Künstler und Werk bis zu einem gewissen Grad trennen können muss – aber was, wenn ich diesem Anspruch selbst nicht gerecht werden kann? Wer frei von Ernaux ist, werfe die erste Rowling.

Warum ich trotzdem keine Sekunde gezögert habe, mir nach dem – nebenbei bemerkt sehr gelungenen – Ende des 325 Seiten starken Romans sofort den zweiten und dritten Band zu bestellen? Weil Julian Mars zwar nicht die Geschichte erzählt, die ich gerne lesen wollte, und er trotz emotionaler Effekte für mein Empfinden die meiste Zeit an der Oberfläche bleibt … aber er auch einfach sehr gut schreibt: JETZT SIND WIR JUNG hat ein gutes, unaufdringliches und trotzdem durch die Handlung treibendes Tempo, Mars arbeitet geschickt mit der Verzahnung der beiden Zeitebenen und zeigt für ein Debüt erstaunliches Können für Szenen- und Dialoggestaltung. Er überrascht zwar selten (außer vielleicht mit der spontan wechselnden Augenfarbe von Martin), liefert aber so zuverlässig ab, dass es ein Vergnügen ist. Und jeden Schreibenden, der mich von den ersten Seiten an so in seinen Bann zieht wie es vor vielen (ach ja, sehr vielen) Jahren die ersten Bände der Maupin’schen STADTGESCHICHTEN taten, muss man einfach Kränzlein winden.

Hinzu kommt, dass jedes Buch natürlich zum Resonanzraum wird für die Romane, die man zuvor gelesen hat, und es war für mich tatsächlich eine spannende Erfahrung zu erleben, wie JETZT SIND WIR JUNG vom zuvor verschlungenen BLUTBUCH umkreist wurde. Beide Bücher vibrieren auf ganz anderen Ebenen (Kim de l’Horizont ist 3Sat, Julian Mars Netflix), aber beide Romane erzählen junge Geschichte über Identitätsbildung, mit all dem Sturm und all dem Drang, der zum Heranwachsen gehört – und ja, auch der Dummheit, die damit einhergeht. Möglich, dass ich deswegen so stachelig darauf reagiere, weil ich einiges davon aus meiner eigenen Biographie wegtintenkillern würde … Aber: Es braucht all das, um auf diesen einfachen Versatzstücken, die irgendwann an ihren Sollbruchstellen in sich zusammenfallen, im Idealfall das aufzubauen, was ein echtes Weltbild werden wird. (Möglich übrigens, dass mir daher die von Felix mit eher wenig Liebe beäugte Tamara so gut gefiel – die Figur, die zwar quecksilbriger daherkommt als die anderen, sich aber bereits gefunden zu haben scheint.)

Wie finde ich ein Schlusswort für ein Buch, für das ich so unterschiedliche Gefühle habe? Nun, vielleicht noch einmal mit George Bernhard Shaw: „Die Jugend ist ein Geschenk der Natur, aber das Alter ist ein Kunstwerk.“ Umso neugieriger bin ich, womit mich Julian Mars in LASS UNS VON HIER VERSCHWINDEN und WAS WIR SCHON IMMER SEIN WOLLTEN kratzen, spiegeln, zum Nachdenken bringen und gut unterhalten wird.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Julian Mars: JETZT SIND WIR JUNG. Albino Verlag, 2015