Wenn aus rasanter Erzählung ein literarischer Komödienstadl wird …
„Gedankensplitter störten ihren flachen Schlaf. Pläne, Erinnerungen, Wahrnehmungen, die zu unumstößlichen Erkenntnissen werden wollten. Doch wem gelang es schon, Menschen, Zeit und Ereignisse ziemlich endgültig einzuordnen? Der Geist blieb diese schreckliche Produktionsmaschine, die kein stabiles Schlußwort fand, das nicht Widerspruch und Ergänzung wachgerufen hätte. War man stark, ließ sich diese Klöppelarbeit des Hirns als intellektuelle Lust bezeichnen; war man matt und bereits zerdacht, wie es Eri bisweilen drohte, gerieten weitere Ideen zur Folter.“
Ach herrje: 10 Jahre ist es her, seit ich diesen Roman in der inzwischen verschwundenen (Lieblings-)Buchhandlung MAX & MILIAN unmittelbar nach Auslieferung gekauft habe – aber man kommt zu nix und irgendwas ist immer. Nun habe ich es endlich gelesen: sowohl mit großem Vergnügen … als leider auch dem Gegenteil.
Die Geschichte, die Hans Pleschinski in KÖNIGSALLEE erzählt, ist vielversprechend: Im Sommer 1954 hat sich im „Breidenbacher Hof“ zu Düsseldorf Thomas Mann nebst Frau und Tochter angekündigt, um in der Landeshauptstadt aus seinem „Felix Krull“ zu lesen. Es gilt daher, die Suite für den hochbetagten und überaus empfindlichen Literaturpreisträger vorzubereiten, außerdem muss dringend ein ansonsten gerngesehener Stammgast vertrieben werden, bei dem es sich um einen Altnazi der schlimmsten Sorte handelt; undenkbar, wenn er und Thomas Mann aufeinandertreffen würden. Das Hotelpersonal ahnt allerdings nicht, dass ein anderer Gast noch mehr Sprengkraft für das Gemüt des Literaten haben könnte: Klaus Heuser, die ehemals große Liebe des Dichterfürsten, ist nach vielen Jahren in Asien für einen Besuch an den Rhein zurückgekehrt und logiert mit seinem indonesischen Lebensgefährten im Dachgeschoss. Erika Mann ist alarmiert: Wie würde ihr Vater, dessen Nerven unbedingt geschont werden müssen (und zwar vor allem durch sie, die getreue und wichtigste Stütze des „Zauberers“), auf dieses Zusammentreffen reagieren? Und sie ist nicht die Einzige, die bei Klaus in der Mansarde vorstellig wird …
Wenn Pleschinski über das Hotelpersonal und die Düsseldorfer Honoritäten schreibt, dann ist das ein großes Vergnügen und die perfekte Vorlage für einen Film von Wes Anderson – hier stimmt zunächst einfach alles, vom perfekt komponierten angestaubten Ton über die nie ausufernden Schilderungen der Szenerien und Umstände (die wenigen Seiten über die Heuser-Eltern, ein Genuss!) bis hin zu den Seitenhieben gegen die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die allzu gerne bereit war, einem verabscheuungswürdigen Schlächter wie Albert Kesseling wieder den roten Teppich auszurollen. Die von der eigenen Bedeutung ergriffene Begrüßungsrede für die Familie Mann ist so herrlich Cringe-worthy, dass ich Leser von geringem Verstand in die Hände klatschen und „Köstlich!“ rufen wollte … aber ach, wenn hernach auf Seite 112 die ebenso trinkfeste wie zu allem entschlossene Erika bei Klaus Heuser an die Tür klopft, ist es leider vorbei mit dem rasanten Vergnügen. Von nun an wird nicht mehr schwungvoll und intelligent erzählt, sondern vor allem dramatisch deklamiert im intellektuellen Komödienstadl: Die Dichtertochter und ihr mit Mordfantasien liebäugelnde Bruder Golo sowie der in Ungnade gefallene Mann’sche Weggefährte Ernst Bertram wollen Klaus für ihre Ziele einspannen und begründen dies mit lawinenartig auf uns Lesende niederprasselnden Monologen. Was vermutlich geistreich wirken möchte, wird schnell zur Bedeutungssoße, die sich erstickend über die Szenerie legt; kein Wunder, dass in alten Kritiken gerne auf das von Thomas Mann höchstselbst stammende – wenn auch in anderem Kontext verwendete – Gebot hingewiesen wird: „Das Schwerste tut Not: Beschränkung.“ Hier hätte jemand dem hochgebildeten und detailverliebten Autor den Liebesdienst erweisen sollen, einen Rotstift anzusetzen.
Trotzdem gibt es auch in der zweiten Hälfte des Romans, den Pleschinski (wie der Klappentext vorsichtshalber auch dem ungebildeten Lesenden mit auf den Weg gibt) an Manns LOTTE IN WEIMAR angelehnt hat, großartige Momente – wenn beispielsweise in einer erstklassigen Saufszene herrlich selbstironisch darüber schwadroniert wird, dass solche „der Folklorismus der Belletristik“ sind – und Figuren wie die Journalistin Gudrun Kückebein, deren Frage, wieviel der Literat denn nun Hitler zu verdanken hat, Mephisto und Gretchen in sich vereint (und deren nonchalante Antwort, wie sie das „Dritte Reich“ überlebt hat, ein meisterhaft gesetzter Paukenschlag ist). Es sind diese Szenen, die ahnen lassen, was für ein zeitloser Triumpf KÖNIGSALLEE hätte werden können, wenn Pleschinski das von mir oft zitierte Mantra der Alltagsphilosophin Heidi Klum beherzigt hätte: „You have to edit, edit, edit!“
Wird es am Ende doch zu einem Wiedersehen zwischen den einstmals – und möglicherweise immer noch – Liebenden kommen? Verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht. Bleibe außerdem die Aussage schuldig, ob ich diesen Roman empfehle (denn ja, ich würde vieles dafür geben, eure Meinungen dazu zu hören). Und erfreue mich lieber noch einmal an dieser Beschreibung von Klaus Heusers Mutter:
„Eine Schönheit war Mama gewesen. An ihrem Lächeln und ihren Bewegungen waren mißbilligende Blicke der Nachbarn abgeglitten. Auch ihren Garten hatte sie verteidigt: ‚Ich mag, wenn alles durcheinanderwächst. Da sieht man erst, was in der Erde keimt und ans Licht will. Beete sind preußisch, mein Garten ist Karneval.‘ In ihrem Eden hatte sie wahrscheinlich in der ersten Hollywoodschaukel am Niederrhein in Ullstein-Magazinen geschmökert. – Klaus seufzte. Mamas Redefluß und auch ihre Neigung, einen Kanon, ‚Wenn die Nachtigallen schlagen, ei, wem soll das nicht behagen?‘, vier, fünf Mal hintereinander zu singen, allein, hatten ihm bereits als Knaben manchmal sehr in den Ohren gehallt. In den vergangenen Tagen hatte sie nicht gesungen, aber gesummt. Vater hatte ungefähr seit dem Ersten Weltkrieg auf Durchzug gestaltet, wenn es an seiner Ateliertür vorbeiträllerte.“
Wer weiß, vielleicht verbirgt sich darin bereits die Handlungsaufforderung, wie man in diesem Buch den Bedeutungslawinen ausweichen sollte?
***
Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Hans Pleschinski: KÖNIGSALLEE. C.H. Beck Verlag, 2013
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