Ein herber Rausch – und eine Unterhaltungsliteratin, die alle Superlative verdient

„Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können. Und ihren Ältesten nicht davon abgehalten, diesen Fehler noch einmal zu machen. […] Und jede Nacht, bevor er schläft, sieht er das Auge eines jungen Wals vor sich, der sterben musste, weil er sich verschwommen hatte.“

Es dauert gerade einmal eine Stunde auf der Fähre, um vom Festland auf die namenlose Nordseeinsel zu kommen – und doch wird so der Abstand zwischen dem Heute und dem Gestern überbrückt, der modernen Zivilisation mit all ihren Möglich- und Befindlichkeiten und einer anderen Welt, die unserer immer ähnlicher wird, aber immer noch rauer ist, archaischer, durchdrungen von einer tiefen, seit Jahrhunderten in die Menschen hineingeborenen Schwere, die keine Melancholie ist, keine Depression, sondern eine tief verwurzelte Mischung aus Stolz, Verzweiflung und … nun, hier wünscht man sich, von Zuversicht zu sprechen, aber so einfach macht es Dörte Hansen uns Lesenden nicht.

In ihrem dritten Roman erzählt diese – und hossa, wie sehr verdient sie alle Superlative – große deutsche Unterhaltungsliteratin von der alten (Seefahrer-)Familie Sander: von Jens, der das Meer hinter sich gelassen hat, um als Vogelwart das Leben eines Eremiten zu führen, von seiner Frau Hanne, die für ihre Arbeit im Inselmuseum morgens die alte Tracht anzieht und sie abends wieder ablegt, während sie das Korsett aus Freundlichkeit für die Fremden und der Verzweiflung über ihre Nahen unlösbar fest um sich geschnürt hat; von Ryckmer, dem ältesten Sohn, groß, verwegen, für viele Frauen unwiderstehlich, den die Angst in den Suff getrieben hat; von Henrik, der getrieben von seiner inneren Unruhe immerhin die Chance hat, in ein Leben hineinzuwachsen, das mit den Traditionen bricht; und schließlich Eske, der von oben bis unten tätowierten Tochter, die vielleicht als Einzige der drei Kinder fähig wäre, sich auf eine Liebe einzulassen, wenn nicht auch ihre Emotionen dem steten Wandel von nach vorne drängender Flut und sich unweigerlich zurückziehender Ebbe unterworfen wären.

ZUR SEE ist ein wind- und wellendurchtostes Kammerspiel über Menschen, die mit beiden Füßen fest und innerlich strauchelnd auf ihrem Platz im Leben verharren. Es ist ein Roman über das Sehnen nach etwas, was nicht greifbar scheint, und der Angst davor, dieses zuzulassen. Wie immer in den Büchern von Dörte Hansen geht es um eine althergebrachte Welt, in der das Moderne Einzug hält – und wie immer verzichtet sie auf Nostalgiekitsch oder Verklärung. So wird der Wal, der eines Tages am Strand verendet, zum Abgesang auf die Vergangenheit der Insel, ein letztes Aufflackern von Traditionen, die nicht mehr dem Überleben dienen, sondern nur noch zur Entsorgung taugen.

Ich habe es als ebenso köstlichen wie herben Rausch empfunden, dieses 253 Seiten zu lesen – und schaue, während ich dies schreibe, verwundert auf die so geringe Zahl, denn es fühlt sich an, als wäre man in eine weitaus umfangreichere Geschichte hineingesaugt worden. Dörte Hansen ist eine Meisterin des Auslassens und hat die sehr genaue Führung von uns Lesenden doch perfekt orchestriert. Es ist einige Wochen her, dass ich den mit einem herrlichen Schutzumschlag und einem Lesebändchen veredelten Band zugeklappt habe, und tatsächlich habe ich einige Details vergessen (wird aufgeklärt, wer seine Wut auf den Inselpastor in dessen Gästebuch schreibt?) … aber nicht die Wucht der Geschichte, die Tragik, die leise Hoffnung, die unglaubliche Schönheit mancher Momente, die sich wie Sonnenschein anfühlt, der unerwartet durch graue Wolken auf unsere Gesichter fällt. Großes Kino, große Kunst und eine Versuchung, sofort noch einmal von vorne anzufangen.

***

Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Dörte Hansen: ZUR SEE. Penguin Verlag, 2022