Sehr gut, sehr dicht, aber durchaus noch mit Luft nach oben

„Die Stille des Raums saust in seinen Ohren wie eine bedrohliche Sirene, wie ein Feueralarm, wie der Lärm eines rollenden Panzers. Hakan kennt diese Stille. In dieser Familie wird niemals laut gestritten. In dieser Familie kämpft man immer so: mit bedeutungsvollen Blicken und abgewandten Augen, mit lauter Dingen, die nie ausgesprochen werden und darum umso schwerer in der Luft liegen, weil alle wissen, wovon das Nicht-Gesagte erzählt und gegen wen es sich richtet.“

Ganz im Sinne von Tolstois „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ erzählt die deutsche Autorin Fatma Aydemir in ihrem Roman DSCHINNS auf 367 Seiten ebenso einfühlsam mit fesselnd von Hüseyin Yılmaz, der als „Gastarbeiter“ Ende der 1960er Jahre nach Deutschland kommt, von seiner Frau Emine und den 1999 größtenteils erwachsenen Kindern: Sevda, die in einer unglücklichen Ehe gefangen ist und von ihrer Freiheit träumt, Hakan, der ein anderes Leben führen will als sein Vater, Peri, die auf ganz eigene Art gegen die Vorstellungen ihrer Eltern rebelliert und Ümit, der nicht so liebt, wie es von ihm erwartet wird. Jedem der Kinder ist ein Kapitel gewidmet, eingerahmt wird dies von der Sichtweise ihrer Eltern.

Fatma Aydemir gewährt uns Einblicke in das Innenleben ihrer Figuren, erzählt vom Gestern und vom Jetzt, von Verletzungen, dem Festhalten an Traditionen in Zeiten des Wandels, vom Wunsch, sich aus diesen Ketten zu befreien. DSCHINNS ist ein Roman, der immer wieder berührt, den ich atemlos in einem Rutsch gelesen habe – und den man sowohl feiern kann als auch kritisch sehen darf.

Tatsächlich könnte man Fatma Aydemir den Vorwurf machen, dass sie die Geschichte überfrachtet, weil sie ihre sechs Figuren in allzu konzentrierter Form – und dadurch für mich Leser von geringem Verstand zunehmend klischeehafter Weise – so ziemlich alles durchleben und durchleiden lässt, was man sich vorstellen kann: Zu den vielen Problemstellungen, mit denen „Menschen mit Migrationshintergrund“ fremd- und selbstverschuldet fertigwerden müssen, gesellen sich Homophobie, Genderthematik und ein dräuendes Familiengeheimnis. Aydemir verwebt das alles geschickt, aber ich habe mir eigentlich nach jedem Kapitel gewünscht, ich würde mehr über die Figuren erfahren als nur ein „Best of“ ihrer Niederlagen und kleinen Glücksmomente.

Während ich Sevda, Peri und Emine nachvollziehbar und lebensecht fand, habe ich Hakan und vor allem Ümit als zu konstruiert empfunden – was schade ist, denn in unzähligen kleinen Momenten und im geschickten „Foreshadowing“ zeigt die Autorin immer wieder ihr großes Talent … und dass hier noch mehr möglich gewesen wäre. Aber trotzdem, und ach, und hach: ein Lesevergnügen!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Fatma Aydemir: DSCHINNS. Carl Hanser Verlag, 2022.