Ein Roman über das Aushalten und das Aufbegehren

„Gestern habe ich in der Rue Honoré-Pain gesehen, wie eine Taube auf die Straße fiel. Sie landete auf dem Rücken, ihre Flügel schlugen noch ein paar Sekunden. Dann war sie tot. Von einem Vordach schaute eine Gruppe anderer Tauben auf sie herunter. Ich fragte mich, was die wohl fühlten. Hatten sie sie runtergeschubst?“

Jean Popper ist ein armes Würstchen – die französische Autorin Yasmina Reza (bei der zumeist reflexartig erwähnt wird, dass sie eine der meistgespielten Theaterautorinnen der Gegenwart ist, aus deren Feder unter anderem KUNST und DER GOTT DES GEMETZELS stammen) lässt daran von der ersten Seite an keinen Zweifel: Er laviert sich durchs Leben, emotional halt- und heimatlos, ein mittelalter Mann, der zwar um die eigene Vergänglichkeit weiß, aber nicht, wie er mit dieser umgehen soll.

SERGE (übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel) erzählt auf gerade einmal 206 Seiten eine Geschichte mit größerem Resonanzraum: Es geht um das Konstrukt Familie und das psychische Erbe, das wir alle in uns tragen, um die kleinen und großen Schläge, die wir aktuell noch wohlstandsverwöhnten Mitteleuropäer uns und anderen versetzen, es geht um den Wunsch, das Richtige zu tun im Leben, und das Scheitern, das nicht zuletzt dadurch unvermeidbar ist, weil die Protagonisten keine Ahnung haben, was „das Richtige“ sein könnte. In diversen Rezensionen auf Instagram habe ich gelesen, dass Jean, sein Bruder Serge und seine Schwester Nana als unsympathisch empfunden wurden; dem kann ich mich nur bedingt anschließen. Ja, Yasmina Reza leuchtet ihre Schwächen, ihre Erbärmlichkeit aus, sie führt sie vor … aber ich habe dies vor allem als Angebot an uns Lesende verstanden, sie zu verstehen und – mon dieu – uns vielleicht gar in ihnen zu erkennen.

Was mir sehr gut gefällt an diesem Buch ist der lakonische Blick auf das Leben, in den sich Humor schleicht – der selbstverständlich nicht krachledern daherkommt, sondern wie eine perfekt gezupfte, ironisch hochgezogene Augenbraue: Es ist amüsant, wenn wir erleben, wie Jeans Eltern über das Jüdischsein streiten, wenn der sterbenskranke Maurice sich alle Optionen offen halten möchte oder die alte Zita mit einem Whiskey in der Hand gerne so verrucht und begehrenswert wie früher wäre; aber ach, das alles erhellt nur, was auch eine mattschwarze Einfärbung verdienen würde, etwa wenn Jean den kleinen Sohn seiner Exfreundin trösten möchte, ohne die emotionale Grundausstattung dafür zu haben.

Natürlich kann man über dieses Buch nicht sprechen, ohne Auschwitz zu erwähnen, denn dorthin reisen die Popper-Geschwister auf Wunsch von Serges Tochter, um auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln (reichlich rätselhaft bleibt mir der Fokus des Feuilletons auf diesen Aspekt). Natürlich wissen sie, wofür dieser Ort steht, aber nicht, wozu er heute geworden ist. Yasmina Reza streift das Thema des Holocausttourismus in meiner Wahrnehmung eher am Rande (in diesem Zusammenhang sei MONSTER von Yishai Sarid empfohlen); sie nutzt die Realität des Ortes – die erschütternden Kratzspuren der Opfer an den Gaskammerwänden, die blumengeschmückte Stadt in der Nähe – natürlich, um die Themen Erinnerung und Verdrängung anzusprechen, aber ich habe dies vor allem als provokanten Weg empfunden, um die Poppers in ihrem familieninternen Stellungskampf zu positionieren … und zum eigentlichen Thema des Romans überzuleiten (weswegen alle, die das Buch noch lesen möchten, diese Rezension jetzt besser abbrechen, Danke für Ihren Besuch, beehren Sie uns bald wieder).

Als Leser von geringem Verstand empfinde ich SERGE als Buch über das Aushalten und Aufbegehren – und bin noch unentschlossen, ob ich es nun als gerechtfertigt oder brutal empfinden soll, wenn allzu deutlich die Parallele zwischen Tieren, die im Angesicht des Todes nicht weglaufen, und den Opfern des NS-Regimes gezogen wird; vielleicht ist es beides? Und für was mag die seltsame Pflanze stehen, die in Serges Zufluchtsort wuchert: Das antisemitische Klischee … oder die scheinbare Unausrottbarkeit des Hasses?

Obwohl Reza hier für mein Verständnis die zu große Keule schwingt, finde ich es ausgesprochen gelungen, wie sie uns im kleineren Rahmen an das Thema heranführt: Wenn Maurice, getrieben vom eigenen Sterbewunsch, doch noch die verhasste Physiotherapie macht, bevor er neue Lebensfreude findet – und Jean (DIE WURST!) damit hadert, dass dies möglicherweise nur auf ein heimlich verabreichtes Medikament zurückzuführen ist. Yasmina Reza wertet das nicht, sie überlässt es uns Lesenden … denn wie immer, wenn am Ende ihrer Geschichten der Vorhang fällt, sehen wir, dass er ein Spiegel ist.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Yasmina Reza: SERGE. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag, 2022.