Der Roman über eine Frau, die zu weit geht – und die wir dafür lieben
„Aber was ich an den alten Männern am meisten liebe und was mich auf den Gedanken bringt, ich könnte selbst einer sein und nicht eine alternde weiße Frau Ende fünfzig (eine Identität, die in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt mir meistens peinlich ist), ist die Tatsache, das alte Männer aus Begierde bestehen. Sie sind ein einziges Bedürfnis. Sie haben Lust auf Essen, Boote, Urlaub und Unterhaltung. Sie wollen stimuliert werden. Sie wollen schlafen. Sie lassen sich vom Begehren leiten, daraus besteht ihre ganze Welt. […] Und natürlich sehnt er [der alte Mann] sich nach der Hingabe einer Sexualpartnerin, und sei es nur in der Vorstellung, im blauen Licht eines Fernsehschirms.“
Dieser Roman ist ein Vergnügen: elegant, von bösem Witz geprägt und mit einer Sinnlichkeit getränkt, die weniger mit Sex und mehr mit einem unstillbaren Lebenshunger zu tun hat, dabei erfrischend non-political-correct trotz eines Bewusstseins für vielfältige Problematiken … und ganz sicher nicht das, was das lauthals „Yanagihara!“-rufende Umschlagmotiv vermuten lässt.
Die namenlose Erzählerin ist Ende 50, Literaturprofessorin an einem kleinen Ostküsten-College, Mutter einer erwachsenen Tochter und Gattin eines Professors, dem sexuelle Übergriffigkeit vorgeworfen wird. Nicht nur dadurch ist sie an einem Wendepunkt ihres recht komfortablen Lebens: Will sie weiter in ihrer offenen Ehe leben, oder ist es an der Zeit, ein neues Kapitel (und noch dazu Buchprojekt) zu beginnen? Und will sie möglicherweise auch den neuen Gastdozenten?
Der titelgebende Vladimir ist Ende 30, ein sexy Intellektueller, der um seinen erotischen Marktwert weiß, aber nicht, dass Selbstverliebtheit ein Podest ist, von dem man(n) leicht stürzt. Schon durch den Prolog wissen wir, dass die Erzählerin ihm sehr nah kommen wird – wenn auch ein kurzer Satz ahnen lässt, dass dies anders geschieht, als zu erwarten ist …
Julia May Jonas hat mit VLADIMIR einen Roman geschrieben, in den man sich wie in seine Hauptfigur hemmungslos verlieben kann: Sie ist gebildet und eitel, ohne sich zu ernst zu nehmen, kokettiert (darum und trotzdem) mit dem eigenen „Verfall“, genießt trockene Martinis und Kultur; sie analysiert sich und die Welt mit kühlem, abgeklärtem Blick, lässt sich aber auch auf Tagträume und eigene Vermutungswelten ein. Sie, die in ihrem Leben selbstbewusst (möglicherweise gar schamlos) geliebt hat, empfindet kein Verständnis für Frauen, die nichts mehr davon wissen wollen, dass Macht und männliche Seniorität ein Aphrodisiakum sein können; es ist daher ein großes Vergnügen zu lesen, wie sie eine Gruppe woker (und übergriffiger) Studentinnen in ihre Schranken weist, wobei sie gleichzeitig nicht unerwähnt lässt, dass auch sie misogynes Verhalten erleben musste (und sie fast zum Kollateralschaden der Aufregung um ihren Mann wird). Julia May Jonas hat keinen Anti-me-too-Roman geschrieben, obwohl ihre Hauptfigur eine Position dazu einnimmt – vielmehr lädt sie ein, sich Gedanken über das Thema zu machen, und bietet durch die Lieblingsstudentin der Erzählerin auch einen ganz anderen Blickwinkel auf das Thema.
VLADIMIR ist ein Roman über weibliches Begehren in einer gehobenen (und mancher bitterer Lebensrealitäten enthobenen) Wohlstandsschicht, wobei es dabei eigentlich nicht um Männer geht: alle, denen wir in diesem Buch begegnen, haben eine gewisse Nähe zur Erbärmlichkeit. Vielmehr erzählt der Roman vom Wunsch, gesehen zu werden, sich selbst zu fühle und zu verwirklichen – ein Verlangen also, das nur eingeschränkt durch einen Penis gestillt werden kann, sondern Selbsterkenntnis braucht, Akzeptanz, das Öffnen und Schließen von Türen.
Lob gebührt der Herstellung des Blessing-Verlags für die Auswahl des strukturierten Schutzumschlagpapiers, das ein ebensolcher Handschmeichler ist wie der Einbandbezug; Abzüge gibt’s in der B-Note für den meiner Empfindung nach überproportionierten Kopfsteg und das Fehlen eines Lesebändchens, nach dem das Buch geradezu schreit. – Und darf ich noch einmal auf das Umschlagbild zu sprechen kommen? Im amerikanischen Original wird der Roman irritierenderweise wie ein Hausfrauenporno verpackt (und dafür in vielen Rezensionen sogar gerühmt – oy vey, oy vey), für die deutsche Ausgabe hat man auf ein erotisch aufgeladenes, zweideutiges Foto von Peter Hujar zurückgegriffen, vermutlich, weil man so die ästhetische Welt der Protagonisten darstellen UND sich ein wenig an den Riesenerfolg von EIN WENIG LEBEN heranwanzen kann … Und nun, und ach, und nee: Ich finde, dass man diesem Roman damit nicht gerecht wird, der doch deutlich mehr zu bieten hat als schwüles Verlangen.
Es gibt gegen Ende des Romans zwei überraschende Wendungen (vielleicht nicht ganz so überraschend, wenn man den Prolog aufmerksam gelesen hat), die aber weniger als Höhepunkte dienen – denn auch das mag ich an VLADIMIR: Julia May Jonas‘ von Eva Bonné übersetzter Roman ist herrlich unaufgeregt und deswegen so befriedigend, ein Buch, das in der Sonne gelesen werden will, mit einem Glas Champagner in der Nähe und einem „Yes, Queen, I feel you!“ auf den Lippen. Denn obwohl die Geschichte mit einem Moll-Akkord endet, habe ich sie vor allem als saftig und lebensbejahend empfunden: Alternd gehen wir auf unser Ende zu – aber Alter ist nicht das Ende.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Julia May Jonas: VLADIMIR. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Karl Blessing Verlag, 2022.
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