Wer Christopher Isherwood nur durch die Romanvorlage zu CABARET kennt, hat etwas verpasst
„Der Christopher, der im Taxi zum Hafen fuhr, ist, praktisch gesprochen, tot; es gibt ihn nur noch in verblassenden Erinnerungen deren, die ihn kannten. Er lässt sich nicht wiederbeleben. Ich kann ihn nur aus den Worten und Handlungen in meinem Gedächtnis und aus den Büchern rekonstruieren, die er uns hinterlassen hat. Oft ist er mir peinlich und ich bin versucht, über ihn zu spotten; ich will mich jedoch bemühen, es nicht zu tun. Ich will mich auch nicht für ihn entschuldigen. Auf die eine Art ist er mein Vater, auf die andere mein Sohn. […] Sein Leben hat sich bisher in engen Grenzen abgespielt, und er ist, was die meisten Erfahrungen angeht, ziemlich unbedarft; er fürchtet sie, und doch giert er danach. Um sich zu beruhigen, verwandelt er jede in Windeseilen in ein Heldenepos. Er spielt unentwegt Theater.“
Zu den Schrecken und Segnungen des Älterwerdens gehört es zu merken, was man bisher verpasst hat: Natürlich weiß ich seit Jahrzehnten, wer Christopher Isherwood (1904–1986) war – hatte aber bisher, Asche herbei und auf mein Haupt geworfen, nichts von ihm gelesen.
In seinem autofiktionalen Roman NUR ZU BESUCH erzählt Isherwood von Begegnungen, die sein Leben geprägt haben, beginnend mit einem entfernten Verwandten bzw. Bekannten der Familie, mit dem er durch eine Mischung aus Abscheu und Faszination verbunden ist; ein Muster, das uns durch das gesamte Buch begleiten wird. Durch ihn lernt er den ebenso schönen wie leichtfüßigen – und auf nicht unsympathische Art gewissenlosen – Waldemar kennen, mit dem es ihn auf eine griechische Insel zu Ambrose verschlägt, einem britischen Gentleman im selbstgewählten Exil. Jahre später begegnen sich unser Erzähler und Waldemar im England der Vorkriegsjahre wieder, bevor Christopher nach Amerika geht, dort die Spiritualität für sich entdeckt und Paul kennenlernt, den man zum gefallenen Engel verklären könnte, wäre er nicht von Anfang an (und viel zu gerne) ein Teufel.
Als Leser von geringem Verstand habe ich ein latentes Unwohlsein, wenn ich höre, dass eine Geschichte autofiktional ist: Das Kreisen um den Bauchnabel, das Kokettieren mit der eigenen Naivität oder Brillanz, das möglicherweise nüchterne, dabei aber eitle Zeugnisablegen, es ist nicht immer meins. Und so sind auch in diesem Buch die wenigen Passagen, in denen Isherwood sich vor allem um sich selbst dreht, nicht diejenigen, die mich begeistert haben. Zum Glück schreibt er getreu seinem Motto „I am a camera with the shutter open“ aber vor allem über die Menschen, denen er begegnet ist: Es sind virtuose Porträts ohne Ouvertüre oder Fanfaren, die uns die Glanz- und Schattenseiten der Figuren mal vorführen, mal erahnen lassen, ohne ihnen ihre Geheimnisse zu nehmen. Durch Wikipedia weiß ich, dass Ambrose und Paul von Isherwoods Weggefährten Francis Adrian Joseph Turville-Petre und Denham Fouts inspiriert wurden; insbesondere über den letztgenannten möchte ich sofort ganze Romane oder Zyklen lesen – und ach und hach: Ganz besonders schlägt mein Herz für die kapriziöse Maria Constantinescu, die freimütig einräumt, ein „Monster“ zu sein … und ein unstillbares Verlangen danach hat, andere ihrer Art zu zähmen.
NUR ZU BESUCH hat einen leisen, aber fordernden Beat, der mich wie eine Motte ums Licht kreisen ließ. Mit kalter Wucht haben mich Isherwoods Schilderungen über die nervöse Stimmung im London der Vorkriegsmonate getroffen – denn vieles davon begegnet uns aktuell wieder im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine. Im krassen Gegensatz zu dieser Modernität (oder Zeitlosigkeit) stehen die Frauenbilder, denen wir auf den 447 Seiten begegnen, und eine Rohheit, die man heute teilweise als toxische Maskulinität benennen würde. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass das N-Wort stets abgekürzt wird – in Unkenntnis des Originals kann ich nicht sagen, ob dies eine Entscheidung Isherwoods war oder ein Eingriff der Übersetzer Michael Kellner und Volker Oldenburg. Deren Arbeit macht einen sehr guten Eindruck, auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass sie „Schatz“ und „Liebes“ im englischen Original belassen hätten, um ihren Kontext zu bewahren.
Was ist wahr in diesem Buch, was ist erfunden, und ist die Verfremdung möglicherweise auch ein Verstecken? Diese Frage kann man sich immer wieder stellen, und wenn es irgendwo dort draußen einen Isherwood-Experten gibt, please let me know. Davon abgesehen: NUR ZU BESUCH ist ein Zeitporträt ohne Verfallsdatum, tippt große Themen an, ohne den Anspruch zu erheben, sie umfassend zu behandeln, und lädt uns Lesende ein, Figuren zu begegnen, die lange in Erinnerung bleiben werden. Ich bin sehr froh, Isherwood nun für mich entdeckt und diese Lücke in meinem Lesenslauf geschlossen zu haben – und freue mich darauf, bald seine bekannteren Werke in Händen zu halten.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Christopher Isherwood: NUR ZU BESUCH. Aus dem Englischen von Michael Kellner und Volker Oldenburg. Hoffmann und Campe Verlag, 2021.
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