Ein Roman, der an seiner eigenen Geschwätzigkeit erstickt

„Denn wie alle zur Hysterie neigenden Menschen hatte Wilhelm das unerschöpfliche Bedürfnis, geliebt zu werden, er konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass man jemanden mehr lieben konnte als ihn. Dieses ständige Verlangen, die eigene Erstklassigkeit, Auserwähltheit und Brillanz spüren zu müssen, erlaubte ihm auch in anderen Fragen nicht, Prioritäten zu setzen, selbst in einfachen Dingen.“

Wut ist ein zweischneidiges Schwert, da sie mit Gewalt nach außen dringt, wir sie aber selbst genauso schmerzlich spüren – und trotzdem, und ach, und ach je, ich wäre dankbar, ein wenig Wut verspüren zu können als einfach nur eine machtlos machende Traurigkeit über dieses so furios startende und dann kläglich scheiternde Buch, das etwas ganz Besonderes hätte werden können, aber an der eigenen Geschwätzigkeit erstickt.

Als Leser von geringem Verstand mag ich der ukrainischen Autorin Natalka Sniadanko Unrecht tun: Vielleicht ist DER ERZHERZOG, DER DEN SCHWARZMARKT REGIERTE, MATROSEN LIEBTE UND MEIN GROSSVATER WURDE brillant, vielleicht hat es den Sound und Erzählrhythmus, der die Literatur der Ukraine aus- und kennzeichnet … und ich bin zu ungebildet, um das zu verstehen.

Die Grundidee der Geschichte und die Konstruktion sind auf jeden Fall großartig: Sniadanko erzählt auf 418 enggesetzten Seiten vom Leben des realen Erzherzogs Wilhelm von Habsburg, der sich für eine unabhängige Ukraine einsetzte; so ist der Roman, der den Bogen schlägt vom Anfang des 20. bis ins 21. Jahrhunderts und dabei die beiden Weltkriege streift, auf schreckliche Art aktuell, weil er uns miterleben lässt, wie sehr die Menschen dieses Landes seit über 100 Jahren unter Gewalt, Machtkämpfen und Hass leiden müssen. Der reale Wilhelm starb – je nachdem, welcher Quelle man glaubt – Ende der 1940er Jahre in Kiew oder 1955 in einem russischen Gulag; Sniadanko gönnt ihm das Überleben an der Seite einer tollen Frau sowie Sohn und Enkelin, die wiederum in der geschickt verzahnten Gegenwartshandlung im Mittelpunkt steht.

Es gibt Abschnitte und Szenen in diesem Buch, die sind ein Genuss und haben jenen epischen Atem, den die ersten Kapitel versprechen und die mich hoffen ließen, ein ähnlich bewegendes Lesevergnügen gefunden zu haben wie DAS ACHTE LEBEN: FÜR BRILKA oder ALEF. Leider war dem nicht so: Während Haratischwili und Höftmann-Giobotaru mitreißend erzählen, beschränkt sich Sniadanko überwiegend darauf, zu beschreiben und zu dokumentieren; das mag sich oft wie ein mündlicher, über Generationen weitergegebener Erfahrungsbericht anhören, bei dem Familienerinnerungen, das Leiden von Sissi (und Sohn) und Massenvergewaltigungen nach dem zweiten Weltkrieg nahezu dieselbe Wahrnehmungsebene haben. Dies hat mich die meiste Zeit auf Abstand gehalten.

Wilhelm ist – der Titel deutet es an – eine spannende Figur, doch wir erfahren erstaunlich wenig über ihn; insbesondere sein illustres Liebesleben wird nur gestreift (und allein die Zeit in Paris, als er die Bekanntschaft einer schönen Betrügerin macht, wäre einen eigenen Roman wert – während man über die schrecklichste aller schrecklichen Sexszenen auf Seite 290 den Mantel des Vergessens werfen möge). Ähnlich ging es mir mit seiner Frau Sofia, die so viel mehr zu bieten gehabt hätte – ganz im Gegensatz zu ihrer Tochter Halyna, deren Gegenwarts- und Erziehungsprobleme mich komplett unberührt ließen.

Trotz Kenntnisse der Originalfassung bzw. Ursprungssprache vermute ich, dass die Übersetzung von Maria Weissenböck sehr gelungen ist, denn sie liest sich flüssig und – in den besseren Momenten der Handlung – mitreißend. Man hätte diesem Buch, ob nun im Original oder in der deutschen Ausgabe, mutige Kürzungen gewünscht: Das Überangebot der Ereignisse, das ständige Auftauchen und Verschwinden von Figuren hinterlässt bei mir kein Gefühl dramatischer Chöre, sondern Belanglosigkeit, aus der die unfassbare Brutalität gegen Frauen zwar gelegentlich schmerzlich heraussticht, aber umso beliebiger wirkt – zumal der Grundton des Romans seltsam versöhnlich wirkt; ein Ölgemälde kann man eben nicht mit Wasserfarben malen.

***

Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Natalka Sniadanko: DER ERZHERZOG, DER DEN SCHWARZMARKT REGIERTE, MATROSEN LIEBTE UND MEIN GROSSVATER WURDE. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Haymon Verlag, 2021.