17.04.2022
Warum der erfolgreichsten Romane der letzten 20 Jahre seinen Erfolg trotzdem verdient hat
„Damals, im Jahr 1961, als Frauen Hemdblusenkleider trugen und Gartenvereinen beitraten und zahllose Kinder bedenkenlos in Autos ohne Sicherheitsgurte herumkutschierten; damals, bevor überhaupt jemand ahnte, dass es eine 68er-Bewegung geben würde, und erst recht nicht eine, von der ihre Teilnehmer die folgenden sechzig Jahre erzählen würden; damals, als die großen Kriege vorbei waren und die geheimen Kriege gerade begonnen hatten und die Menschen allmählich anfingen, neu zu denken und zu glauben, alles wäre möglich, stand die dreißigjährige Mutter von Madeline Zott jeden Morgen vor Tagesanbruch auf und war sich nur einer Sache ganz sicher: Ihr Leben war vorbei.“
EINE FRAGE DER CHEMIE ist ein elegant erzählter Roman über weibliche Selbstbestimmung in den 50er und 60er Jahren, reich gefüllt starken Momenten, zeitlosen Wahrheiten und den ebenso zeitlosen (und darum umso schmerzlicheren) Abgründen menschlichen Verhaltens. Die amerikanische Autorin Bonnie Garmus stellt uns Figuren vor, die lange in Erinnerung bleiben werden, und hat mit diesem rasanten Debüt über die Chemikerin Elizabeth Zott und deren eigenwillige Kochshow ein Buch geschrieben, das vielleicht nicht als Kunstwerk, aber als perfektes Kunststück jeden Applaus verdient: Mehr muss man über dieses 457 Seiten starke, auf warmherzige Art nostalgieleuchtende und extrem suchtgefährdende Lesevergnügen eigentlich nicht sagen.
Also: Man muss nicht. Aber man kann. Und wer das Buch noch vor sich hat, möge an dieser Stelle bitte nicht weiterlesen.
Ich war von den ersten Seiten an begeistern, und ich bin es über das Ende hinaus. Dieses Buch geht ans Herz – und als Leser von geringem Verstand habe ich tatsächlich eine Weile gebraucht, um zu begreifen, was ihm trotzdem und bei aller Begeisterung, die ich empfinde, fehlt: eine Seele. Dafür spielt Bonnie Garmus zu souverän auf der Klaviatur der Gefühle, dafür weiß sie zu genau, wie sie Höhepunkte setzt, und hat sich vermutlich zu lang Gedanken gemacht, welche Themen sie ein- und abarbeiten will. Denn das wären … alle. Wirklich ALLE.
In EINE FRAGE DER CHEMIE begegnen uns unter anderem toxische Männlichkeit und ebensolche Moralvorstellungen, mannigfaltiger Missbrauch (nicht nur, aber auch in der katholischen Kirche), unterschiedlichste Eltern-Kind-Beziehungen, Frauensolidarität und deren Gegenteil, der Niedergang des Qualitätsjournalismus als Opfer des effekthaschenden Boulevards, Religionskritik, ein Hohelied auf die Eindeutigkeit der Wissenschaft und den Wert alternativer Familienmodelle und, und, und … Dass die selbstverständlich auch auf der Liste abzuhakende – aber nur im Off agierende – schwule Figur sterben muss, versteht sich von selbst, und gerade als ich mich zu fragen begann, ob der rein weiße Cast eventuell zu weiß sein könnte für ein Buch, das doch darum bemüht ist, eine moderne Mittelstandsleserschaft politisch korrekt zu begeistern, erwähnt die Hauptfigur nebenbei, das sie auf der Seite der afroamerikanischen Bevölkerung steht – zumal sich darin selbstverständlich ihr eigener Kampf spiegelt.
Für ein solches Hochleistungsszenario braucht es Figuren, deren Farbwerte bis zum Anschlag hochgedreht sind: Elizabeth Zott ist HÖCHST intelligent und HÖCHST attraktiv, kommt trotz HÖCHSTER Schicksalsdichte nie vom Kurs ab und macht es uns nicht ganz so gesegneten Lesenden leicht, sie zu lieben; schließlich verkörpert sie jenen Nonkonformismus, den wir alle tief in unseren Herzen gerne selbst für die eigene Legendenbildung hätten. Natürlich fliegen unsere Herzen auch ihrer Tochter Madeline zu (SO eine kleine Überfliegerin, außer dann, wenn der Plot es anders braucht) und der Nachbarin Harriet (SO liebenswert), natürlich hassen wir Miss Frask (SO hinterhältig, aber selbst SO gebeutelt und am Ende SO wunderbar), und wenn man sich nun fragt, was in diesem ungemein anheimelnden Reigen überhaupt noch fehlen kann, ist die Antwort selbstverständlich: ein intelligenter und lebensweiser Hund, der nicht „Bello“ oder „Hasso“ heißt, sondern „Halbsieben“, denn wie anders könnte eine Katherine-Hepburn-esque Hauptfigur, die statt einem Tropfen Chanel No. 5 einen Hauch von Asperger trägt, das Wundertier auch anders nennen?
Es ist durchaus verblüffend, dass EINE FRAGE DER CHEMIE – soweit ich das beurteilen kann hervorragend übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann – trotz der bereits erwähnten Schicksalsschlagdichte vor allem eine warme Decke bleibt, die auch deswegen so kuschelig ist, weil das lustvoll überkonstruierte Buch (EVEYTHING IS CONNECTED!) überraschenderweise keinerlei Überraschungen bietet, sondern seine Fäden am Ende zu einem hübsch ordentlichen Knäuel aufgerollt hat. Warum das alles trotzdem ganz hervorragend funktioniert? Erdacht in einer Zeit, in der ein Trump das Weltgeschehen dominiert hat und gelesen in einer, in der ein Putin uns in Angst und ohnmächtige Wut versetzt, ist EINE FRAGE DER CHEMIE Balsam für angespannte Nerven, ein modernes Märchen, das uns verspricht, dass Wandel möglich ist und dass das Gute am Ende siegen wird. Darum: Tusch, Trommelwirbel, tosender Applaus, denn dieser Roman ist eine perfekt gelaufene Kür auf dem Eis, die höchste Punktzahlen verdient.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin, die beim Verlag arbeitet, geschenkt bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Bonnie Garmus: EINE FRAGE DER CHEMIE. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Piper Verlag, 2022.
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