Ein düsteres Kaleidoskop, das begeistert
„Mitten in der Lobrede auf meine Mutter, während der öden und herzzerreißenden Beerdigung, kam es mir in den Sinn, die Hochzeit abzusagen.“
Da ich meine Gedanken zu diesem Buch mit den Worten „Ich verstehe Menschen nicht“ einleite, bewege ich mich auf dünnem Eis, insbesondere, weil ich den Satz weiterführe mit „die sich Triggerwarnungen vor Büchern wünschen“, auch wenn ich dies selbstverständlich respektiere; mir ist sehr bewusst, wie dankbar ich für den Luxus sein kann, so zu denken (mehr noch als für mein Ballett-Abo und Champagnertrinken am Samstagmorgen). Ebenso dankbar bin ich für ZWISCHEN HIER UND HIER – nicht obwohl, sondern gerade weil man diesem 333 Seiten umfassenden Band vermutlich ein in dunklen Farben schimmerndes Potpourri an Warnhinweisen voranstellen könnte.
Die amerikanische Autorin Amy Bloom schreibt in ihren 17 Erzählungen über Depressionen, Todessehnsucht und Selbstmord, über Transidentität, Betrug, emotionalen Missbrauch, Krankheit und Manipulation. Wir sind dabei, wenn eine Tochter sich das Ende ihres kalten Vaters herbeisehnt, wenn vernarbtes Gewebe geküsst wird, wenn ein strahlend schönes Kind den Verstand verliert und körperlicher Schmerz die einzige Möglichkeit scheint, ein besseres Leben zu finden. So. Das verdauen wir jetzt erst einmal.
ZWISCHEN HIER UND HIER erzählt aber auch von Liebe – oft der ganz großen, die sich in unterschiedliche Schatten hüllen kann –, vom Weitermachen in schwierigen Situationen, vom Durchhalten. Und obwohl das, was Amy Bloom ihre Figuren erleben und erleiden lässt, oft niederschmetternd ist, gleitet es nie in Torture Porn ab, ganz im Gegenteil: Ich habe mich von diesen kühlen, eleganten Texten immer wieder auf unbestimmte (und vermutlich unbestimmbare) Art getröstet gefühlt. Bloom schneidet tief, mit Szenen, die man allesamt auswendig lernen möchte, doch die Wunden brennen nicht; „Bitterer Honig“, habe ich Leser von geringem Verstand mir als Definition aufgeschrieben, ohne recht zu wissen, warum.
Wenn wir schon beim „Warum“ sind: Nein, man versteht nicht, was sich der Verlag bei der Auswahl des sehr schönen, aber in keiner Weise zum Inhalt passenden Umschlagmotivs gedacht hat, und nein, ich bin in Unkenntnis des Originals nicht sicher, ob die fließenden Übersetzungen von Adelheid Dormagen und Kathrin Razum an einigen Stellen einer gründlicheren Redaktion bedurft hätten. Aber fällt das ins Gewicht? Nö!
Man befrage mich nun bitte auch nicht, ob die Textgattung, der Bloom einen Großteil ihres Schaffens gewidmet hat, nun korrekt als Novelle oder Erzählung oder Kurzgeschichte bezeichnet werden sollte. Wir werden jedes Mal in die Handlung geworfen, wir verlassen sie später, ohne dass alles zuende erzählt worden wäre, und doch stets mit einem Gefühl großer Befriedigung. Jeder dieser Texte hat für mich die Sprengkraft eines Romans, der mich – Tusch, Trommelwirbel und Vorhang auf – mit Welten konfrontiert, die mir fremd (oder allzu vertraut) sind und darum Menschen verstehen lässt. Darum geht es meiner Meinung nach bei Literatur. So viel Leben, so viel Abgrund in die kurze Form zu bringen, das ist große Kunst … und ein echtes Vergnügen!
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Amy Bloom: ZWISCHEN HIER UND HIER. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen und Kathrin Razum. Atlantik Verlag, 2016.
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