Das Debüt der schwedischen Autorin überrascht und bewegt auf über 800 Seiten
„Er befand sich in einer der Übergangsphasen der Geschichte. Überflüssige Zeit zwischen zwei wichtigeren Ereignissen. Etwas, das man gern überspringt, um Fluss und Schwung in den Text zu bringen. Nichts zu tun, außer zu warten. Darauf, dass die Kinder nach Hause kommen. Auf die Beerdigung. Auf einen Bescheid. Man bekam Lust, seinen Rotstift zu zücken und das ganze Blatt dick durchzustreichen. Weg mit dem Mist! Der Lektor von Raymond Carver hatte in dessen ‚Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden‘ große Teile brutal gelöscht, hatte ganze Schlüsse von Kurzgeschichten gestrichen, vor allem die glücklichen. Und wie gut waren sie dadurch geworden.“
Es gehört Chuzpe dazu, einen solchen Gedanken auf Seite 6 von 874 zu stellen – denn die schwedische Autorin Lydia Sandgren kommt in ihrem erstaunlichen Debütroman GESAMMELTE WERKE ganz sicher nicht schnell auf den Punkt: Sie lässt sich Zeit, viel Zeit, auch und gerade für Nebensächlichkeiten, und es mutet fast wie ein Schelmenstreich an, dass eine Figur in der Hälfte des Romans gar darüber nachdenkt, dass sie die Geschichte durch eine klare Ansage abkürzen könnte … sich aber dagegen entscheidet. Trotzdem fehlt es diesem Text ganz sicher nicht an Schwung, und das ist faszinierend, manchmal enervierend und doch immer wieder (let’s just throw this in for the fun of writing it) inspirierend, weil trotz des hohen Umfangs so viel ungesagt bleibt und dazu einlädt, durch eigene Gedanken weitererzählt zu werden.
Natürlich kann man sagen, dass es hier um Martin Berg geht, einen eher unerfolgreicher Verleger mit schriftstellerischen Ambitionen, der nach dem spurlosen Verschwinden seiner Frau Cecilia die beiden Kinder allein großgezogen hat, und nun die Übersetzungsrechte an einem deutschen Buch angeboten bekommt. In Ermangelung der nötigen Sprachkenntnis will er es von seiner studierenden Tochter beurteilen lassen, zumal er hofft, sie dadurch für die Verlagsarbeit zu begeistern. Rakel denkt erst, dass es nur die Geschichte einer unglücklichen Liebe ist, bis sie merkt, dass die Frau, um die sich der Roman dreht, keine andere sein kann als ihre Mutter … und begibt sich auf Spurensuche.
Das alles hätte Sandgren bequem auf 300 Seiten abhandeln können – stattdessen holt sie weit aus und erzählt in diesem Opus Magnum in aller Ausführlichkeit die Geschichte von Martin und seinem besten Freund Gustav, der im Lauf der Handlung zu einem der bedeutendsten Künstler Schwedens werden wird. Auch wenn ungespültes Geschirr und bierselige Absturztouren als Chiffre eines Boheme-Lebensstils deutlich überstrapaziert werden, ist es ein großes Vergnügen, die beiden beim Heranwachsen zu begleiten; Sandgren versteht sich meisterlich darauf, Stimmungen einzufangen und uns immer wieder neu für ihre Figuren einzunehmen.
Der zwischen den Zeitebenen springende Roman ist schlau konstruiert, und auch, wenn manche Information ein wenig zu häufig gegeben wird (ja, ich habe auch schon beim ersten Mal verstanden, dass Cecilias Bruder als Jugendlicher ein Schweißproblem hatte), macht es großen Spaß, wie sich hier alles aufeinander bezieht und immer mehr zu einem großen Bild zusammensetzt.
(Und an dieser Stelle warne ich alle, die das Buch noch lesen wollen: SPOILER AHEAD!)
Trotzdem wäre es meiner Meinung nach falsch, GESAMMELTE WERKE in erster Linie als Buch über Freundschaft im positiven Wortsinn oder gar Liebe zu verstehen (was bei einer Instagram-Lichtgestalt zu lesen war), auch wenn sich beides natürlich nicht zuletzt wegen der vermeintlichen Nähe zum Klassiker JULES UND JIM anbietet. Ich empfinde GESAMMELTE WERKE vielmehr als Hohelied des Scheiterns, denn das verbindet die Figuren: Martin, der erstaunlich wenig begreift von dem, was um ihn herum passiert, Gustav, der trotz (oder wegen) seiner Hochbegabung (und möglicherweise seiner Sexualität) die meiste Zeit haltlos durchs Leben taumelt, und natürlich Cecilia, die als blendend schöne Heiligenfigur des Schmerzes eigentlich mit allem geschlagen wird, was sich bietet, ohne dass dies jemals konkret benannt wird, von (Kindbett-)Depressionen bis zu „Regretting Motherhood“, vom Leiden einer Hochintelligenten und Ruhelosen bis zur allgemeinen Bindungsunfähigkeit. Ja, es geht um Freundschaft in diesem Buch, aber eher in Form einer Fragestellung: Wie benennt man das, was zwei Menschen verbindet, sie sich zueinander hingezogen fühlen, ohne das Gegenüber aber wirklich sehen zu wollen (oder zu können)? Und so verbirgt sich in diesem Buch unter der warm leuchtenden Oberfläche oftmals eine emotionale Kälte, die Lesende, die dafür empfänglich sind, schauern lassen wird – sehr offensichtlich bei den Familien von Cecilia und Gustav, aber auch in einer Szene, in der Rakel achtlos ein Foto vernichtet, dass eine Erinnerung ihres Vaters ist und sie somit bewusst einen Teil seiner Vergangenheit auslöscht.
Sandgren erzählt von all dem so intensiv und gleichzeitig ballastfrei, dass es eine Freude ist – und ich deswegen recht spät und mit einiger Verblüffung merkte, dass sie die letztendlich uninteressanteste Figur ihres Dreigestirns in den Mittelpunkt gestellt hat: Martin, der leidenschaftlich mit seiner Mittelmäßigkeit hadert, da er sich zu Großem berufen fühlt (von dem man tatsächlich annehmen kann, dass es für ihn zum Greifen nah wäre) und doch immer wieder versagt. Dass er bis zuletzt Gustavs Sexualität ignoriert (sogar nach dessen Tod noch für einen Augenblick mit der Idee spielt, dieser könnte etwas mit Cecilia gehabt haben), irritiert mich vor allem deswegen, weil der Roman in einer Zeit spielt, in der Homosexualität längst nicht mehr so stigmatisiert war bzw. ist wie früher. Ich fragte mich zunehmend: Warum will sich die Autorin – die sich doch so gut auf die Schilderung einer männlichen Perspektive versteht – nicht auf dieses für ihre Figuren möglicherweise dünne Eis begeben?
Und doch, und ach, und hach: GESAMMELTE WERKE hat mich – in der Übersetzung von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig – fast durchgehend gefesselt, weil man sich nach kurzen Durststrecken immer wieder neu in ihn verlieben kann. Obwohl ich weder ein Hochleistungsleser bin noch ein Fan von dicken Romanen, habe ich diesen in kürzester Zeit verschlungen … und stehe als Leser von geringem Verstand nun vor dem Paradox, dass ich ihn eigentlich zu lang finde, ihn mir aber gleichzeitig länger gewünscht hätte, um auch die Perspektiven von Gustav und Cecilia kennenzulernen.
Ob GESAMMELTE WERKE ein Meisterwerk ist, mögen andere beurteilen – als großen Wurf, der kein Interesse daran hat, pfeilgerade zu fliegen, kann man ihn auf jeden Fall feiern.
***
Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern gibt lediglich meine Meinung wieder.
Lydia Sandgren: GESAMMELTE WERKE. Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig. mare Verlag, 2021.
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