Für seinen herrlich kulturschnöseligen Ton möchte man Florian Illies oft küssen
„Es gibt einen unglaublichen Kult um das Kühle, das Coole, man will den anderen, wenn ihm die Tränen kommen, immerzu glauben lassen, das Herz sei nur ein Muskel. Und Romantik eine Stilrichtung des 19. Jahrhunderts. […] Die Traumata des Krieges, die Schrecken des Eises und der Finsternis, sorgen dafür, dass sich vor allem die Männer panzern gegen Gefühlswallungen jeglicher Art. […] Ein kalter Snobismus, sich selbst und anderen gegenüber, von den Künstlern der Neuen Sachlichkeit auf die Spitze getrieben. Gegen das vergangen expressionistische Ideal der ‚Authentizität‘ stellt man nun das Gebot der Künstlichkeit, die Maler schauen auf ihre Modelle wie ein Arzt: Machen Sie sich bitte frei, aber gewähren Sie mir keine Einblicke. […] Die Frauen brauchen die Männer nicht mehr. Das ist die für Männer verstörende Botschaft der späten zwanziger Jahre. Sie brauchen sie nicht mehr, um ihr Leben zu finanzieren, zumindest in Berlin und den anderen Großstädten, sie arbeiten im Büro. […] Und die Frauen brauchen die Männer nicht mehr für Sex, denn Erfüllung finden sie auch bei ihren Freundinnen (oder sich selbst). Aber wenn sie sich doch mit einem Mann einlassen, dann weiß der, dass ihn die Frau genauso erwählt hat wie er sie – und dass sie es genauso schnell beenden kann wie er. ‚Mit ihm schlafen, ja, aber keine Intimitäten‘, wie Kurt Tucholsky, der Kenner der Frauen, zusammenfasst.“
Früher war alles besser? Nein, eindeutig nicht, und das ist nur einer der vielen Denkanstöße, die Florian Illies uns mit seinem wunderbaren Biographienpuzzle LIEBE IN ZEITEN DES HASSES beschert, das den mutmaßlich verkaufsfördernden, aber auch irreführenden Untertitel „Chronik eines Gefühls“ trägt: Weder geht es hier um ein konkretes und singulär für sich stehendes Gefühl noch um jene Bedeutungsebene, die wir zentralheizungsverwöhnten Mitteleuropäer damit heute verbinden.
Toxische Männlichkeit, das Abstreifen alter Moralvorstellungen als kultureller Ungehorsam und Lustgewinn, gepaart mit einem unstillbaren Lebenshunger und einer Kaltschnäuzigkeit, bei der man nie weiß, ob sie kalkuliert ist oder letztendlich auch ein gegen sich selbst gerichteter Dolch: Obwohl das Lied erst 10 Jahre später geschrieben wurde, hat man ein schnarrendes „Nur nicht aus Liebe weinen“ im Ohr, wobei die auftretenden Damen das „Es gibt auf Erden / Nicht nur den einen“ mutmaßlich nicht unterschrieben hätten. Denn trotz aller Emanzipation scheinen es doch vorwiegend die Frauen zu sein, die sich an Männern (oder anderen Frauen) abarbeiten, die schmachten, hoffen und immer wieder leiden an der scheinbaren Unmöglichkeit dessen, was sie Erfüllung nennen würden – und noch dazu erwartet sie alle spätestens nach 1933 noch eine ganz andere Bedrohung.
Wie in seinen beiden Bestsellern über das Jahr 1913 collagiert Florian Illies auf Grundlage seiner eindrucksvollen Recherche subjektiv und mit oft herrlich kulturschnöseligem Ton Momente aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten – so wirbeln hier in einem bunten Reigen neben vielen anderen Tucholsky, Brecht und die Familie Mann durchs Bild, aus England kommt Christopher Isherwood zu Besuch, aus Amerika Josephine Baker und die Fitzgeralds. Pablo Picasso benutzt Frauen wie Pinsel, Tamara de Lempicka lockt einen besonders wohlgeformten Polizisten vor ihre Leinwand, während Otto Dix in die eigene Landschaftsmalerei emigriert. Viele schätzen die verführerische Umarmung von Drogen, Lion Feuchtwanger schreibt in sein Tagebuch, was man eigentlich gar nicht so genau wissen möchte, und das gilt auch für die Details aus dem (Liebes-)Leben von Erich Kästner, der so einen Knall hatte, dass er den Schuss nicht hören konnte.
Zu den allseits bekannten Geistes- und Kulturgrößen gesellen sich Persönlichkeiten wie Renée Perle, Rudolph von Ripper (dessen Namen ich so schnell nicht vergessen werde), Charlotte Wolff und viele andere mehr. Angesichts des neunseitigen Personenregisters am Ende des Buchs kann einem schwindelig werden (und man fragt sich natürlich ebenso ratlos wie schaudernd, welche Persönlichkeiten dereinst in einem Buch über das Jahr 2022 auftreten werden).
Zur reinen Lesezeit gesellt sich schnell exzessives googeln, denn natürlich will man über nahezu jede Figur mehr erfahren, als der Autor uns verrät. Und ja, und ach, und hach, manchmal wäre man gerne selbst dabei gewesen: Wenn Florian Illies temporeich über das Berlin der 20er Jahre schreibt, über das pulsierende Nachtleben im Romanischen Café und in schwulen Nachtclubs, dann ist das ein großes, soghaftes Vergnügen, von dem ich mich hocherfreut mitreißen ließ. So genießen wir mit Mascha Kaléko die warme Sonne und wissen genau, wie sich pfirsichfarbener Wind auf der Haut anfühlt … Illies lässt uns das alles ganz unmittelbar erleben – aber kaum hat er uns am Haken, reißt er ihn wieder heraus:
Selten habe ich das Hereinbrechen des Terrors durch die Nazis in einem Buch so eindringlich empfunden wie in diesem Kaleidoskop. Friedrich Hollaender, der mit klopfendem Herzen im Zug nach Paris sitzt, Else Lasker-Schüler, die mutterseelenallein in Zürich auf der Straße schläft; es gibt nicht genug Kerzen, um sie für all die vielen Menschen zu entzünden, die ihre Heimat und allzu oft auch ihr Leben verloren haben.
LIEBE IN ZEITEN DES HASSES beginnt – zumindest für uns Lesende – heiter mit einer Anekdote über Beauvoir und Sartre und endet mit dem Texter Bruno Balz, der für 24 Stunden aus dem KZ geholt wird, um unter den Augen der Gestapo zwei Lieder zu schreiben: „Ich weiß, es wird einmal die Wunder geschehen“ und „Davon geht die Welt nicht unter“. Florian Illies setzt dem ein „Beides erweist sich als unzutreffend“ hinterher und entlässt uns nach diesem Nackenschlag auf Seite 404 recht unsanft in unsere Gegenwart. Das ist zum einen niederschmetternd und schrecklich … und zum anderen seltsam tröstlich. Denn vielleicht – und hoffentlich – wird Balz (der die Schrecken des Dritten Reichs überlebte) am Ende doch recht behalten.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin, die beim Verlag arbeitet, geschenkt bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Florian Illies: LIEBE IN ZEITEN DES HASSES. S. Fischer Verlag, 2021.
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