Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis – verdient, jawohl!
„Es bereitet mir auf jeden Fall die größte vorstellbare Lust, als reine Abladestation benutzt zu werden. Ich liebe die Erniedrigung, ich werde so richtig feucht, wenn man mich wie die billigste Nutte behandelt. Und noch viel mehr geilt es mich auf, wenn ich sehe, wie sehr man mich erniedrigen muss, wie sehr ich in meiner physischen Machtlosigkeit die gesamte psychische Kontrolle über ihre Geilheit habe. Nichts macht mich williger, als zu spüren, wie sehr sie von meiner sluttiness abhängig sind, um ihre Schwänze hochzukriegen. Sie sagen: ICH BESORGE ES DIR, aber in Tat und Wahrheit besorge ich es ihnen; ich besorge einen Körper, an dem sie sich ihre Männlichkeit besorgen können.“
Heißa, hopsa, Lillebror – was ist denn das? BLUTBUCH von Kim de l’Horizon droht fast, hinter all den Ausrufezeichen zu verschwinden: Nonbinär! Longlist, Shortlist, Deutscher Buchpreis! Fragwürdige Outfits! Gewaltandrohung! Schweizer Buchpreis! Nicht zu vergessen: spermadurchschwalltes Arschgeficke! So viel Applaus und Geschrei (und manchmal beides) für und um ein Kammerspiel, das ich Leser von geringem Verstand auch deswegen mag, weil es zwar von der eigenen Nonkonformität beschwipst zu sein scheint, sich aber möglicherweise auch nicht so ernst nimmt, wie Teile der Öffentlichkeit es tun – und ein Buch, das es schafft, zugleich angeraut und glattpoliert zu sein.
Die nonbinäre Erzählfigur ringt mit sich, mit der Welt und mit den verschiedenen Aspekten von Dominanz – mit der Großmutter, die in ihrer Demenz verschwindet, mit der Mutter, changierend zwischen Eiskönigin und Seelenverwandter, natürlich auch mit der Jahrhunderte überspannenden Misogynie auf der einen und den Lebensentwürfen von modernen Nagellackbenutzenden auf der anderen Seite. Vor allem ringt hier eine 26-jährige ebenso gebildete wie empfindsame Seele im zweiten Akt der Pubertät mit der Lust an der eigenen Körperlichkeit und den Problemen, die dieser Körper in der Welt jenseits der eigenen vier Wände bedeuten kann. Habe ich dabei etwas über nichtbinäre Geschlechtsidentität gelernt? Nö. Habe ich trotzdem immer wieder darüber nachgedacht, was das nun sein soll, „maskulin“ und „feminin“, und was es bedeutet, manche Zuschreibungen „schwach“ zu finden und andere „stark“? Jawohl.
Die netto 298 Seiten lassen schwungvoll viel auf uns niederprasseln – und nein, nicht alles davon begeistert mich: An den intensiven Prolog und das mitreißende erste Kapitel schließt sich mit ermattenden 48 Seiten die „Suche nach der Kindheit“ an, die mich das BLUTBUCH fast zur Seite legen ließen; zum Glück hat mich Kim de l’Horizons sehr jetztzeitiger Sirenengesang aber mit dem dritten Kapitel und vierten Kapitel wieder eingefangen, beispielsweise durch die fiktiven Lebensläufe der Vorfahrinnen von Großmutter, Mutter und Kind, und mir einen Überraschungsmoment beschert, weil das fünfte Kapitel … nun, das will ich nicht verraten.
„Stilistisch und formal einzigartig“, jubelt der Verlag im Klappentext über das eigene Druckerzeugnis, weil Bescheidenheit vermutlich eine überschätzte Zier ist, aber man kann Kim de l’Horizon tatsächlich nicht vorwerfen, sich geradliniger Erzählungsmuster zu bedienen – was gerade noch autofiktionale Erzählung zu sein scheint, bekommt plötzlich essayistischen Charakter und kokettiert dann gar mit dem Genre des Familiengeheimnisromans; saftige Penetration wechselt sich mit leisen, ganz zarten Momenten ab, und müsste ich diese über alle Grenzen hinwegtänzelnde Coming-of-Age-Themenorgie auf einen Nenner bringen, wäre es vermutlich – ich zitiere von Seite 147– „drinkedridunk as Fickedifunk“.
Sowohl im SPIEGEL (das ist so ein Nachrichtenmagazin, ich weiß nicht, ob ihr davon schon gehört habt) als auch in der Rezension einer von mir sehr geschätzten Vielleserin wurde die explizit sexuelle Komponente des Buch „gerügt“ – womit beide meiner Meinung nach den entscheidenden Punkt ausklammern: BLUTBUCH braucht den Dreiklang aus Schweiß, Scheiß und Sperma, weil die damit verbundene Derbheit, das Hochstilisieren von „Nehmen“ und „Genommen werden“ genauso zur Identifikationsfindung der Erzählperson gehören wie die (von wiederum mir so wenig geschätzten) Schilderung der überspannten Kindheitswahrnehmungen. Kann man dies womöglich nur goutieren, wenn man es aus eigenem Erfahren kennt? Schlaue Köpfe, verratet es mir.
BLUTBUCH ist ein Werk, an dem man sich als „linksgrünversiffter Wohlstandsbürger“ vortrefflich ankuscheln und – wer entweder die Offenheit oder das Aggressionspotential dafür hat – reiben kann; in diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass ich den Umschlag hinreißend finde, auch wenn ich mich mehr und mehr frage, ob die so hübsch anzusehende Verwandlung einer Frau in einen Baum, da sie sich nur so der drohenden Vergewaltigung (wenn auch nicht der nachträglichen Befingerung) entziehen kann, wirklich das lebensbejahendste Motiv ist für ein Buch, in dem es so stark um die Eroberung der eigenen Deutungshoheit geht? Und was mich wirklich neugierig zurücklässt: Wird man sich an Kim de l’Horzions Buch der Stunde in zwei, drei Jahren noch mit mehr als vagem Wohlwollen erinnern? Bilder wie die der Großmeer‘schen Truckli hätten es auf jeden Fall verdient.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Kim de L‘Horizon: BLUTBUCH. Dumont Verlag, 2022.
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