Simone Scharbert setzt einer „vergessenen“ Frau mit diesem Buch ein stimmungsreiches Denkmal
„delicate. ein wort, das je nach kontext etwas anderes bedeutet: empfindsam. zart. sensibel. zerbrechlich. nervös. das etikett klebt an so vielen jungen frauen deiner zeit, packt sie in schubladen, wo ihre stimmen leiser werden, sie kaum zu hören sind. deine reaktion liegt fernab von delicate, ist reine wut. aber wut, das bringt man dir von klein auf bei, kennen mädchen und frauen nicht, wut ist unweiblich, geziemt sich nicht. wut bedeutet kontrollverlust, wut bedeutet das zulassen einer inneren stimme, die es zu zügeln, zu unterdrücken gilt.“
Manche Bücher brauchen Zeit, um dann genau zum richtigen Zeitpunkt zur Hand genommen werden zu können. So verhielt es sich für mich mit DU, ALICE: Diese „Anrufung“ hat mich schon vor weit über einem Jahr neugierig gemacht, doch nach den ersten Seiten legte ich den schmalen Band wieder zur Seite, weil ich Leser von geringem Verstand mich noch nicht auf den besonderen Klang und den Schreibstil einlassen konnte, der mehr Poesie ist als Prosa. Aber nun, obwohl (oder gerade weil) müde nach einem langen Jahr, war ich offensichtlich reif für diese Entdeckung, für die ich ausgesprochen dankbar bin. Man fragt heute oft ironisch: „Ist das Kunst – oder kann das weg?“ Hier ist die Antwort: „JA – und: Auf keinen Fall!“
Eine Knopfleiste, ein Haarknoten, eine Krankengeschichte, dazu ein scharfer Verstand, von dem viele Zeitgenossen sich vermutlich gewünscht haben, er wäre in mehr Samt verborgen geblieben: Auf gerade einmal 108 Seiten verwebt Simone Scharbert das, was man heute noch weiß über das Leben von Alice James (1848–1892), mit intensiven Momentaufnahmen, die oft wie Miniaturen wirken, aber große Leinwände füllen. Intensiv tauchen wir ein in das Leben einer Frau aus gutem Hause, die ihr in Teilen privilegiertes Leben nicht genießen kann – denn die viktorianische Zeit hat ihr die Rolle der Leidensfigur zugedacht: Statt Alice zu erlauben, ihren Horizont zu erweitern, wird sie in enge Korsetts der unterschiedlichen Arten geschnürt. Die Welt versteht Alice nicht – und sie wiederrum nimmt die Welt oft zu genau wahr und weiß darum, dass es den Raum, den sie brauchen würde, (noch) nicht gibt.
Zwischen zwei Menschen können Gesprächspausen lähmend sein, und die üblichen Rezipienten einer Anrufung hüllen sich zumeist in göttliches Schweigen, doch die Leerstellen in diesem Buch sind weit mehr als Auslassungspunkte: Obwohl wir vieles nicht erfahren, lässt uns DU, ALICE ausgesprochen befriedigt und – jenseits jeglichem Hosianna – beseelt zurück, zumal die Autorin elegant all die Fallgruben umtanzt, die sich beim Schreiben eines solchen Textes vermutlich automatisch auftun.
Simone Scharbert idealisiert Alice nicht, sondern billigt ihr eine gewisse Kratzigkeit zu, sie bemächtigt sich ihrer nicht, sondern lässt sie stattdessen in Originalzitaten funkeln, und vor allem verzichtet sie – trotz der sehr aktuellen Erzählart des Buchs – auf unzeitgemäße Modernisierung … oder den bei der Ausgestaltung weiblicher Leidensgeschichten oft allzu plakativ genutzten Torture Porn. Die Lebenswahrnehmung der realen Alice James, so dürfen wir annehmen, war bleischwer – Simone Scharbert schenkt ihr und uns eine luftige, schwebende Würdigung, die nachklingt und dazu einlädt, noch einmal (und noch einmal und noch einmal mehr) durch das Buch zu blättern, willkürlich hier und da in den Text zu tauchen und uns erneut an seiner Geschmeidigkeit zu erfreuen, die eine eigene Wucht hat, ohne ihre Zartheit zu verlieren.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Simone Scharbert: DU, ALICE – Eine Anrufung. Edition Azur / Voland & Qvist, 2019
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