Gibt es eigentlich Menschen, die Olive Kitteridge nicht lieben?

„Es gab Momente, und das hier war einer, da spürte Olive überdeutlich, wie verzweifelt sich jeder ins Zeug legte, um sich das zu verschaffen, was er brauchte. Und die meisten brauchten irgendein Gefühl der Sicherheit in diesem Meer der Angst, zu dem das Leben mehr und mehr wurde. Die Menschen dachten, Liebe würde sie retten, und vielleicht war es so.“

Vermutlich habe ich den Satz „Unter jedem Dach ein Ach“ von meiner Großmutter gehört, und obwohl sie damit möglicherweise eher ein voyeuristisches Grundinteresse an der Nachbarschaft anklingen ließ, hat er mich immer mit einer wohligen Erleichterung erfüllt – genauso wie der mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete (Episoden-)Roman MIT BLICK AUFS MEER, den ich (Leb wohl, Trendsetter-Bonus, auch wenn ich dich nie besessen habe) 12 Jahre nach Erstveröffentlichung der deutschen Ausgabe nun für mich entdeckt habe.

Auf 352 ebenso entspannt zu lesenden wie inhaltlich dichten Seiten erzählt Elizabeth Strout (in der Übersetzung von Sabine Roth) von den Bewohnern einer Kleinstadt in Maine, die sicher behaupten würden, dass in Cosby die Welt noch in Ordnung ist – und möglicherweise ist sie das auch, wenn die Natur sich von ihrer besten Seite zeigt. Aber – „Unter jedem Dach ein Ach“ – auch hier geschieht alles, was das Abenteuer Leben zu einer Geisterbahnfahrt machen kann: Es wird geliebt, oft unglücklich, und gelogen, es wird Gewalt ausgeübt, gegen andere und gegen sich selbst; das Meer versucht, seinen Tribut einzufordern, und das Schicksal schlägt in mannigfaltiger Form zu, sei es in Form einer Krankheit oder einer Schwiegertochter. Fast immer dabei, mal als Vorbeigehende, mal als Hauptfigur eines Kammerspiel-Dramas, ist die pensionierten Lehrerin Olive Kitteridge, die früher ihre Schüler und heute ihre Umwelt beobachtet, bewertet, gelegentlich in Angst und Schrecken versetzt … oder auf die ihr eigene Art ans Herz drückt, was nicht zwingend ein Gegensatz sein muss.

Obwohl jede der 14 Geschichten eine gewisse Erdschwere hat und in tiefem Moll erklingt, habe ich die Lektüre als federleicht empfunden: So wie der Wechsel der Jahreszeiten nicht aufzuhalten ist, so bewahrheitet sich in Elizabeth Strouts Buch einmal mehr, dass nicht nur unter jedem Dach ein „Ach“ zu finden ist, sondern dass das Leben weitergeht, egal welche Prüfungen wir bestehen müssen.

Vor allem aber begeistert das Buch durch Olive: Sie ist dick, raumgreifend, ruppig und unsensibel auf jene spezielle Art, die viele von uns – auf jeden Fall der hier schreibende Leser von geringem Verstand – als faszinierend und anheimelnd empfinden; sie weiß oft genau, was zu tun ist, und trifft zur selben Zeit mit schlafwandlerischer Sicherheit die falschen Entscheidungen. Wenn sie sich an ihrer Schwiegertochter rächt, möchte man ihr zujubeln, nur um sie gleich darauf schütteln zu wollen, wenn sie die Beziehung zu ihrem Sohn nicht in den Griff bekommt, wenn sie einfach nicht aus ihrer Haut kann … oder vielleicht doch?

MIT BLICK AUFS MEER lässt uns den einen warmen Sonnenstrahl erahnen, der nach langen, eiskalten Tagen durch die Wolken auf uns fallen wird (because life goes fucking on und es immer noch ein bisschen mehr carpe aus dem ollen diem zu quetschen gibt), und hat noch dazu einen Schlussakkord, der uns Happy Tears in die Augen treibt, weil Olive – die vielfach angeknackste, aber irgendwie unkaputtbare Olive – einfach noch nicht genug hat vom großen Rätsel Leben. Ein Ach? EIN HACH!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Elizabeth Strout: MIT BLICK AUFS MEER. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Luchterhand Verlag, 2010