Dieser Roman hätte ein ganz großer Wurf werden können, überzeugt aber in der zweiten Hälfte nicht
„Meine Geburt hatte mich in die Nähe von Frauen geraten lassen, die mir nicht nahe waren. Außer Leni. Und Leni war irgendwann von mir entfernt worden. Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir diesen Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln.“
Den Preis für einen der schönsten Schutzumschläge des Jahres hat MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT mit Sicherheit verdient (Gestaltung von Anzinger und Rasp, München, unter Verwendung eines Bildes von Paulette Tavormina), was mich umso enttäuschter zurücklässt, da diese Geschichte über Erinnerungshoheiten, kleine Grausamkeiten und die Fesseln, die man Familienbande nennt, mich nach einer grandiosen ersten Hälfte zunehmend unbefriedigt zurückgelassen hat. Aber vielleicht verstehe ich das alles als Leser von geringem Verstand auch nicht so, wie es gemeint sein mag.
Luise wird durch den Tod ihrer Großmutter zur Alleinerbin eines prachtvollen Anwesens, malerisch an einem ebensolchen See gelegen, in dem sich angelegentlich Frauen aus der Nachbarschaft ertränken. Besagte Großmutter war zu Lebzeiten nicht nur ein strenges Familienoberhaupt, das mit harter Hand regierte, sondern auch eine großartige Gastgeberin, und da versteht es sich von selbst, dass sie ihre Trauerfeier genau geplant hat – wenn auch anders, als ihre Familie erwartet …
Zunächst hat mich Annika Reich mit ihrer Erzählkunst begeistert: Sie versteht es hervorragend, ohne viele Worte Situationen zu erschaffen, die – interessanterweise ohne jedes Geraune – ebenso weichgezeichnet wie scharf umrissen sind, und Stimmungen zu transportieren, in denen man schwelgerisch versinkt. Ein ganz großes Vergnügen (übrigens auch im weiteren Verlauf der Handlung, wenn eine Imbissbude fast dafür sorgt, dass man sich in einem Almodóvar-Film wähnt), wobei die prachtvolle Samtoberfläche möglicherweise auf einem löchrigen Fundament verlegt wurde.
Natürlich kann man die Dissonanzen damit erklären, dass Luise – wie auch die anderen Frauen der Familie – dazu neigt, sich eine eigene Realität zu schaffen: Sie erfindet Geschichten für die beiden toten Frauen; ihre Großmutter orchestriert die Zuwendungen ihres abwesenden Mannes; ein Schmuckstück wird immer wieder neu übergeben, ein alternativer Name betont eingeführt, ein Tennisplatz wechselt, weil weniger ein konkreter Ort als eine Erinnerungsfläche, die räumliche Verortung … und so weiter, und so weiter. In diesem Reigen der Unzuverlässigkeit (in dessen Vergangenheitsebene sich ein Teenagermädchen bereits über das „magische Denken“ der kleinen Schwester amüsieren darf) scheint nur eins zu gelten: „Was uns gegenseitig betraf, misstrauten wir uns ständig, was den Krieg betraf, gaben wir uns mit jeder noch so vagen Geschichte zufrieden.“
Wie gesagt, das alles ist so lange ein Vergnügen, bis man (ich?) einfach nicht mehr übersehen kann, dass vieles nur Mittel zum Zweck ist: Die toten Frauen, die lediglich einen dräuenden Paukenschlageinstieg in die Geschichte liefern; die allerbeste Jugendfreundin, die nach ihren notwendigen Auftritten aus der Handlung verschwindet; ein Stofftier, das nur deswegen erwähnt wird, um wenig dezent auf eine Verbindung hinzudeuten. Luise, der immerhin ein eigenes Goldschmiedeatelier mit anzunehmendem Geschäftsbetrieb angedichtet wurde, ist zumeist so zittrig wie ein letztes Herbstblatt am Baum, darf deswegen auch nie darüber hinweggekommen sein, dass ihre Schwester ins Internat geschickt wurde, und fragt sich effektvoll verunsichert, aber auch selten dämlich, ob denn die Haushälterin ihrer Großmutter auf dem Anwesen wohnen bleiben darf, das – wie wir uns schon allein deswegen erinnern, weil es ununterbrochen thematisiert wird – nun ihr selbst gehört.
Alle Frauenfiguren des Romans leiden, ACHen und HACHen an sich und den jeweils anderen, und alle sind sie dabei doch Motten, die um das kalte Licht der Großmutter tanzen müssen – die, so wollen es der Rückseitentext des Verlags und mutmaßlich auch die Autorin, keine Matriarchin sein darf, sondern eine Patriarchin zu sein hat, die ihr Anwesen zum Phallus umfunktioniert. Da Alice Schwarzer unlängst irgendwohin abgebogen ist, wohin man ihr ganz sicher nicht folgen möchte, erlaube ich mir hier die Frage zu stellen, warum der kalkulierende, oppressive Machtanspruch einer Frau eigentlich immer männlich konnotiert sein muss, währen das Erdulden und Abarbeiten weiblich besetzt wird? Dürfen Frauen in einem Roman, der 2023 erscheint, immer noch keine fiesen Arschlöcher(innen) sein? Ich verstehe das nicht. Genauso wenig übrigens, wie für mich nachvollziehbar ist, warum die Großmutter (die mir, man möge Wattebäusche nach mir werfen statt Steinen, sympathisch ist) zwar einerseits alles daran setzt, dass ihr Erbe in die richtigen Hände übergeht … sie dies dann aber in keiner Weise über den Grundgedanken hinaus zu regeln scheint, sondern so eindimensional wie der Rest des Corps de Névrosés agiert.
Ist Annika Reich in der zweiten Hälfte von MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT die Luft ausgegangen, hat das Lektorat – besoffen von der Kunst des ersten Teils – geschlafen oder bin ich einfach nur zu oberflächlich (immerhin hatte ich den grausigen Schrecken unten rechts auf dem Schutzumschlagkunstwerk auch zunächst übersehen)? Ich weiß es nicht. Und bin vor allem traurig, dass ich das Vergnügen, über das in so vielen Rezensionen jubiliert wird, nicht empfinden konnte.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Annika Reich: MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT. Hanser Berlin Verlag, 2023
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