Alles etwas überzeichnet, aber trotzdem sehr gut gemachte Eskapismus-Unterhaltung

„Als ich 16 war, hätte ich den CSD am liebsten verboten, nur, damit keiner, das das sieht, auf die Idee kommt, dass ich auch so wäre. So laut und so schrill. Heute ist mir klar, dass der Gedanke ganz schön dämlich war, weil es bei CSD ja genau darum geht, dafür zu kämpfen, dass jeder so sein darf, wie er möchte. Man bräuchte nur vielleicht noch eine zweite Parade, in der man dann noch dafür demonstriert, nicht permanent mit allen anderen in einen Topf geworfen zu werden.“

Wie reagiert man als mehr oder weniger ratlos durchs Leben stolpernder junger schwuler Mann, wenn die beste Freundin darum bittet, die Vaterschaft für ihr Kind zu übernehmen? Felix hat einen Monat Zeit, um eine Antwort auf diese Frage zu finden – aber vielleicht muss er vorher erst einmal verstehen, wie die letzten Jahre aus ihm den Mann gemacht haben, der er jetzt gerade ist. Und natürlich gilt es herauszufinden, wer in Zukunft die Hauptrolle in seinem Leben spielen könnte – ein charismatischer Autor, ein bester heterosexueller Freund oder möglicherweise doch sein Exfreund, der ihm so das Herz gebrochen hat, dass ihm garantiert niemals wieder vertraut werden kann.

Nach JETZT SIND WIR JUNG ist LASS UNS VON HIER VERSCHWINDEN der zweite Roman in Julian Mars‘ Trilogie um Felix Lipfels und seine besten FreundInnen. Während der Vorgänger noch klar im Coming-of-Age-Genre verankert war (weswegen übrigens auch der Titel deutlich mehr Sinn macht als der des Nachfolgers), steht diesmal nicht nur der Protagonist auf schwankendem Boden, sondern auch die konkrete Einordnung, was da auf 277 Seiten vor uns ausgebreitet wird: Es geht um Weiterentwicklung und ein etwas zauderndes Nach-vorne-Schauen, streift wieder die Frage, was es bedeuten könnte, ein „guter Schwuler“ zu sein, und lässt mich als Leser von geringem Verstand verblüfft zurück – denn es ist schon eine Kunst, so viel passieren zu lassen, ohne wirklich etwas zu erzählen.

Was möglicherweise wie Kritik klingt, ist bitte nicht als solche zu verstehen: Mars stellt sich mit diesem erstaunlich routiniert aufgefächerten und fließenden Roman souverän auf eine Stufe mit Armistead Maupin, dem viele von uns auch treu durch einen Stadtgeschichten-Roman nach dem anderen gefolgt sind; auch in diesen geht es nicht zwingend darum, WAS die Protagonisten erleben, sondern dass wir die Möglichkeit geschenkt bekommen, sie ein Stück auf ihrem Weg zu begleiten.

Aufmerksame Lesende meiner Rezensionen werden sich erinnern, dass ich im ersten Buch fremdelte mit Felix, der (ich sag’s mit einem zuckersüßen Lächeln) nervig-verklemmten kleinen Arschkrampe. Möchte man den inzwischen unerwartet zu Reichtum Gekommenen aus diesmal schütteln, weil es nicht so schwer sein sollte, aus der Pole Position heraus in den zweiten und alle nachfolgenden Gänge hochzuschalten? Unbedingt. Überzeichnet Mars sein Hangen und Bangen an diversen Stellen? Jawohl. Aber erstaunlicherweise stört das ebenso wenig wie die zum Teil etwas windige Rückblickkonstruktion oder der Umstand, dass spannende Figuren wie Gabriel und Hugo (HUGO! GROSSE HUGO-LIEBE!) als bloße Stichwortgeber zum Einsatz kommen: Mars stellt einmal mehr unter Beweis, dass er ein Autor ist, von dem man sich liebend gern aus dem Alltag entführen lässt. Hat er sich weiterentwickelt – oder nur zugelassen, dass seine Hauptfigur es im Rahmen ihrer Möglichkeit tut? Möglicherweise würde mich ein Hochschulstudium der Antwort näher bringen … möglicherweise kommt es aber weder auf das eine wie das andere an.

LASS UNS VON HIER VERSCHWINDEN hat Charme, oft einen sehr schönen, weil bissigen Witz, und zitiert vergnügt aus dem Erinnerungsschatz der frühen Jahre als „Erwachsene“, der viele von uns jenseits jeder Generationszugehörigkeit miteinander verbindet. Zwischendurch kommt sogar ein wenig Spannung auf, wenn die Frage im Raum steht, mit wem Felix sich vor geraumer Zeit in einem Darkroom vergnügte (wobei angemerkt werden sollte, dass Julian Mars nach seinem spermafeuchten Debüt diesmal die Hände konsequent auf der Tastatur und über der Bettdecke gelassen hat). Und dass am Ende der sanft ins Laufen kommende Updateprozess von Felix‘ Leben wieder auf Null gesetzt wird, lässt zwar erstaunt und ein wenig ratlos zurück, macht mich aber umso neugieriger auf den dritten und abschließenden Teil.

Ein „gutes“ Buch? Das mögen andere definieren. Ein Buch, das ich sehr gerne gelesen habe und in guter Erinnerung behalten werde? Aber sowas von!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Julian Mars: LASS UNS VON HIER VERSCHWINDEN. Albino Verlag, 2018