Alte Mythen in neuen Tüten – das geht nicht immer gut
„Interessieren Sie sich für griechische Vasenmalerei oder geschnitzte Kultobjekte von Göttinnen? Nein? Egal, wir wollen Sie, hochverehrtes Publikum aus den bildungsaffinen Schichten, auch nicht überstrapazieren. Sie müssen auch nicht glauben, wir hätten je gelebt, als Sklavenmädchen aus Fleisch und Blut im Dienst irgendeines schäbigen Inselpotentaten. Klammern Sie die schmutzigen Aspekte der Geschichte ruhig aus, den Schmerz, die Rechtelosigkeit. Betrachten Sie uns als reines Symbol. Dann sind wir nicht realer als Geld.“
Anfang der 2000er Jahre hatte der britische Verleger Jamie Byng eine großartige Idee: Er lud renommierte AutorInnen ein, Mythen verschiedener Kulturen neu zu erzählen. 18 folgten der Aufforderung, unter anderem Margaret Atwood. Zunächst plante sie, sich der nordischen Mythologie zu widmen, wechselte zu einer Geschichte der amerikanischen Ureinwohner – und wollte schließlich, bereits jenseits des vereinbarten Abgabetermins, ihren Vertrag auflösen … bis ihr die Idee kam, sich die Odyssee vorzunehmen.
So entstand (möglicherweise in kürzester Zeit?) die 2005 unter dem Titel THE PENELOPIAD veröffentlichte Novelle, die 2022 zum zweiten Mal in Deutschland erschien, in einer Neuübersetzung von Marcus Ingendaay und Sabine Hübner und unter dem Titel PENELOPE UND DIE ZWÖLF MÄGDE. Der mit lesefreundlicher Schriftgröße auf 188 Seiten aufwattierte Texte liegt nun als strukturlaminierter Pappband vor, hat ein anheimeln modern-historisierendes Motiv und ist für viele Lesende sicher ein großes Vergnügen.
Ich gehöre leider nicht zu diesen Lesenden.
Natürlich ist es unfair, ein Buch an einem anderen zu messen, das erst Jahre später – möglicherweise sogar inspiriert davon – entstand, aber da ich PENELOPE vor allem wegen meiner großen Liebe für CIRCE von Madeline Miller gekauft habe, komme ich nicht umhin, die beiden Werke zu vergleichen. Miller raunt bekanntermaßen, mythologisiert, erzählt mit dem Pathos und heiligen Ernst derjenigen, die eine alte Geschichte in eine moderne Form fließen lassen will; Atwood wählt einen anderen Ansatz: Ihre Penelope berichtet aus den dunklen Weiten der griechischen Unterwelt, Jahrhunderte nach ihrem Tod, und mit einer herrlichen Abgeklärtheit gegenüber dem Geschehenen als auch dem Gegenwärtigen; so amüsiert sie sich zum Beispiel darüber, dass die Menschheit die Hausaltäre der Vergangenheit durch glänzende Bildschirme getauscht hat, und durch diese können die inzwischen Internet-surfenden Geister in das moderne Leben blicken. (Mutmaßlich wird es dadurch möglich, dass sogar die „zehn nackten Friseusen“ aus dem Ballermann-Hit erwähnt werden … was nicht die einzige Gelegenheit ist, sich zu fragen, ob die Übersetzung möglicherweise über das Ziel hinausgeschossen ist.)
Während Penelope in der Odyssee eine Nebenfigur ist, tritt sie hier in den Mittelpunkt, und gemeinsam mit ihr die 12 Sklavinnen, die ihr als Mägde und Komplizinnen dienten und nach der Rückkehr des Herrschers für ihre vermeintlichen Verfehlungen sterben mussten. Wie auch Miller zeigt uns Atwood eine andere Perspektive auf die klassische Geschichte, berichtet von den Fallstricken der Macht, männlicher Gewalt, weiblichem Leiden – und schafft es für mein Empfinden nie, dieser für die hellsten und dunkelsten Farben prädestinierte Geschichte Leben einzuhauchen.
Natürlich ist es ein Vergnügen, wenn die Fahrten des Odysseus umgedeutet werden – wurde er nicht durch göttlichen Einfluss und Zauberinnen an der Rückkehr gehindert, sondern von sangesfreudigen Huren und übellaunigen Herbergsvätern? Natürlich berührt uns die Rechtelosigkeit, in der sich Frauen damals befanden und in der nicht die Frage war, ob eine Sklavin vergewaltigt wurde, sondern nur, wie sie dies überlebte; im meiner Meinung nach stärksten Nebensatz fragen die 12 Opfer sich, ob sie ihr späteres Schicksal hätten verhindern können, wenn sie den Sohn des Odysseus, um den sie sich früher wie Schwestern gekümmert haben, einfach ertränkt hätten.
Lässt man sich davon aber nicht blenden, wird man merken, dass Penelope (ob nun aus Treue zum Originalstoff oder anderen Gründen) eine recht einfache Figur bleibt: Zwar wird ihr große Intelligenz unterstellt, wenn Atwood es für die Handlung braucht, gleichzeitig nimmt sie ihre falschen Entscheidungen mit einem Achselzucken hin und verschläft schließlich den dramatischen Höhepunkt der Geschichte. Natürlich kann man dies so machen, natürlich ist auch dies im Sinn der damaligen Zeit richtig gedacht … aber haucht es dem Mythos frischen Atem ein? Meiner Meinung nach nicht. Und so ist es fast tragisch, dass die von Penelope wenig geliebte Helena in ihrer Eitelkeit und Grausamkeit mehr Kontur zu haben scheint. Um wieviel spannender hätte dieses Buch werden können, hätte Atwood Penelope stärker gegen den Strich gebürstet oder gleich eine andere Figur, beispielsweise die Sklavin Melantho, in den Mittelpunkt gestellt?
Man verstehe mich nicht falsch: PENELOPE UND DIE ZWÖLF MÄGDE ist ein unterhaltsames, manchmal irritierend umgangssprachliches Buch, das ich mit anfänglichem Vergnügen gelesen habe – aber schließlich mit leichter Enttäuschung zuklappen musste. (Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ich die von den Mägden in einem ihrer Gesänge vorgetragenen modernen Interpretation der Geschichte sehr spannend, aber auch seltsam lustlos in den Text hineinkopiert fand.) Für mich fühlt es sich an wie eine Fingerübung der Autorin, die zu so viel mehr in der Lage gewesen wäre.
Hat Atwood das Buch möglicherweise selbst nicht ganz ernst genommen? „Er [Jamie Byng, der vorher mit dem durchtriebenen Hermes verglichen wird] machte sein Angebot in einer kunstvoll-genialen Art und Weise, wie es sich für den Dieb von Apollos Rindern und den Erfinder der Leier und des ersten Scherzes gehört“, verriet sie 2005 in einem Interview mit dem Branchenblatt Publishers Weekly. „Ich war gefesselt: In einem Hilf-einem-Jungverleger-Moment vor dem [ersten] Kaffee [am Morgen] versprach ich, den Mythos-Streich auszuprobieren.“ Das ist sehr charmant, das Ergebnis ist es durchaus auch … aber leider für mich Leser von geringem Verstand nicht nachhaltig befriedigend.
***
Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Margaret Atwood: PENELOPE UND DIE ZWÖLF MÄGDE. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay und Sabine Hübner. Wunderraum Verlag, 2022
Schreibe einen Kommentar