Die Geschichte einer fiktiven Band, die realer wirkt, als man zunächst glaubt
„Sie hatte etwas geschrieben, das mir vorkam, als hätte ich es schreiben können, nur dass ich wusste, dass ich’s eben nicht hinbekommen hätte. Mir wäre so was gar nicht eingefallen. Und genau das wollen wir ja von der Kunst, oder? Dass jemand etwas auf den Punkt bringt, von dem wir das Gefühl haben, es wohnt in uns. Reißt einem ein Stück vom eigenen Herz heraus und zeigt es einem. Das ist, als würde man mit einem Teil seiner selbst vertraut gemacht. Und das hat Daisy mit dem Song getan.“
Perfektes Leseglück: DAISY JONES & THE SIX ist auf Hochglanz polierte, von einem besonderen Sog durchpulste und perfekt ausbalancierte Unterhaltung. Zugegeben, der Tiefgang, den diese Geschichte vom Aufstieg und der Auflösung einer Superstar-Band, verbunden mit angedeutetem Sex, reichlich Drugs und natürlich Rock ’n’ Roll immer wieder zu haben scheint, ist pure Behauptung und wird nie wirklich eingelöst, aber das macht den Roman von Taylor Jenkins Reid so unterhaltsam und suchtgefährdend: Er nimmt uns ohne jegliche Überforderung mit auf eine Achterbahnfahrt, bei der wir den Fahrtwind im Gesicht spüren, ohne ein flaues Gefühl im Magen fürchten zu müssen.
Erzählt wird die Geschichte der Band THE SIX, gegründet von den Brüdern Billy und Graham Dunne, zu der nach ersten Erfolgen die vor Energie und inneren Dämonen vibrierende Daisy Jones stößt, wunderschön, hochtalentiert, emotional fragil und beständig im Rausch gefangen, sei er von ihrer eigenen Kreativität befeuert oder den Drogen, die sie einwirft wie andere Menschen M&Ms. Sie und Billy sind sich ähnlicher, als sie wahr haben wollen: Süchtig nach Anerkennung, auf der Suche nach Halt, immer darauf bedacht, gesehen zu werden, und deswegen in einem beständigen Wettbewerb gefangen, der sie zu künstlerischen Höhenflügen pusht. Aber wo der Ruhm am hellsten funkelt, ist der Abgrund nur einen Flügelschlag entfernt.
Taylor Jenkins Reid hat sich, so kann man im Internet nachlesen, von der Geschichte der Band Fleetwood Mac inspirieren lassen – ob dies deutlich zu erkennen ist, kann ich nicht beurteilen, weil ich sie nicht kenne. Was ich aber sehr zu schätzen weiß ist die Grundidee des von Conny Lösch übersetzten Romans, der sich aus geschickt ineinander verschachtelten Interviews mit den Bandmitgliedern und ihrer Entourage zusammensetzt: Sie ergänzen einander, widersprechen sich, bieten neue Blickwinkel und ermöglichen uns immer schneller und schneller Lesenden eine Art 365 Grad-Panorama dessen, was sich zwischen 1965 und den 2010er Jahren abgespielt hat.
Verkorkste Liebesbeziehungen und verbotene Gefühle, Neid, Fehlentscheidungen, die so einfach zu verhindern gewesen wären, ein unstillbarer Hunger nach Leben (und Nähe), das sind die Versatzstücke, die den Roman für uns Lesende so zugänglich machen – und dabei in eine Welt blicken lassen, die wir wohl eher nie selbst kennenlernen werden. Es ist verblüffend, wie Taylor Jenkins Reid dabei ohne jede erkennbare Anstrengung und oft nur wenigen Worten Bilder malt, die so plastisch sind, dass man fast meint, die demnächst startende TV-Serie schon gesehen zu haben. DAISY JONES & THE SIX verdient die Bezeichnung „Glossy Trash“ als Ehrenabzeichen … und lässt mich einmal mehr über die Frage nach den Grenzen des nicht geschützten Begriffs Literatur grübeln. Hach! Ach! Und euch allen sei geraten: LESEN!
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Ich habe dieses Buch geschenkt bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Taylor Jenkins Reid: DAISY JONES AND THE SIX. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Ullstein, 2020
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