Wenig Handlung, viel Exkurs – kein schlechtes Buch, aber eins, das nicht wirklich überzeugt
„Ich kenne keinen eleganten alten Junkie. In meiner Umgebung gibt es keinen Keith Richards. Alle, die ich noch immer mag, sind ausgestiegen. Außer mir. | Es ist also keine schlechte Idee, in deinem Alter mit den Drogen aufzuhören. Ihr Schriftsteller seid bekanntlich früh dran, wenn es ums Altwerden geht. Die Literatur – ich weiß nicht, was mit euch los ist, fürs Bett kommt ihr alle nicht infrage. Den Männern fallen mit unter dreißig die Haare aus, ihr habt behaarte Finger, ihr kleidet euch absichtlich schlecht, als hättet ihr der ganzen weiblichen Libido den Krieg erklärt.“
Weil ich es mir gerne leicht mache, bin ich geneigt zu sagen: Prima, vielen Dank, nun habe ich die größte Enttäuschung des Lesejahres hinter mir. – Aber das wäre zum einen vermutlich eine vergebliche Hoffnung und zum anderen nicht die ganze Wahrheit. Zumal ich zwar während des Lesens der 332 von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis aus dem Französischen übersetzten Seiten zunehmend den Sirenenruf eines in mir anschwellenden Rants vernommen, das Buch aber letztendlich nur mit leisem Bedauern zugeklappt habe … und nun erstaunt bin, wie viele grandiose Stellen ich mir in der ersten Hälfte des Romans dann doch markiert habe.
Was ich an der Vernon-Subutex-Trilogie – Bücher, die ich zuerst aus einer brennenden Wohnung retten würde – unter anderem so brillant finde ist, mit welcher herrlich großen Geste die Autorin dort die Probleme der französischen Gesellschaft und einer Welt am Rande des Vulkans auf die einzelnen Charaktere heruntergebrochen hat; darum ist mein Hauptproblem mit LIEBES ARSCHLOCH, dass Virginie Despentes hier für mein Gefühl den umgekehrten Weg geht: Sie bläst die Befindlichkeiten zweier Personen zu universellen Konflikten auf, was in Momentaufnahmen von bestechender Qualität ist, allzu oft aber in eloquenter Langeweile versandet, die von Exzess und Abgrund tönt, ohne es zu wagen, sich diesen wirklich zu nähern.
Durch einen Zufall begegnen sich Rebecca, eine Filmdiva à la Catherine Deneuve, und der Schriftsteller Oscar, die sich aus ihren Jugendtagen kennen, im Internet wieder – er beleidigt sie (weil hilflose Männer dies so tun, um diverse Steine ins Rollen zu bringen), sie schreibt wütend zurück … und schon sind wir mittendrin in einem Briefroman, der leider schon daran krankt, dass sich das Genre seit Choderlos de Laclos nicht weiterentwickelt zu haben scheint: Hier wird seitenlang essayiert, als wären die Briefe bei Kerzenschein mit Federkiel auf den zitternden Popacken eines Mädchens verpasst worden, statt die Möglichkeiten zu nutzen, die es heute mit offenen Kommentaren und DMs gibt (möglicherweise auch, weil aujourd’hui ein unliebsamer Kontakt einfach geblockt werden könnte, statt sich wie dereinst noch die Mühe machen zu müssen, den Boten zu erdolchen und den Brief mit großer Geste ins Feuer zu werden).
Was man Despentes nicht vorwerfen kann, ist ein Mangel an Themen, die sie in dieses antiquiert wirkende Konstrukt presst: Me-too im speziellen und Misogynie im allgemeinen, Herkunft und Klasse, sexuelle Identität und die Frage, ob diese fluider ist, als man(n) denken könnte, und auch wenn es vor allem um Drogensucht und deren Bekämpfung geht, darf auch nicht vergessen werden, dass „die Jugend von heute“ nonstop auf kleine Bildschirme starrt. (Corona spielt ebenfalls eine Rolle, wenn auch mehr als Hintergrundrauschen, und wer sich zwischenzeitlich fragte, warum Black Lifes Matter ausgespart wurde: In einem Interview sagte die Autorin, dass sie das Gefühl hat, dass sie als weiße Mitteleuropäerin dazu noch den Mund halten sollte, was möglicherweise richtig ist, aber auf mich doch ein wenig feige wirkt für eine so selbstbewusste Provokateurin.)
Wer sich fragt, warum ich bisher die dritte Protagonistin ausgespart habe, jene Zoé, die Oscars Übergriffe auf sie publik macht und wie eine moderne Jeanne D’Arc nicht nur in die Schlacht zieht, sondern es mit ihren ganz eigenen Inquisitoren zu tun bekommt: Nun, ich frage mich, ob die Autorin diese Einschübe auch erst im Nachhinein eingebaut hat, um die wenigen modernen Themenbereiche abzudecken, die sie nicht auch noch Rebecca und Oscar aufpropfen konnte.
LIEBES ARSCHLOCH bietet keine Handlung, sondern nur Exkurs, was ermüdend ist, aber durchaus ehrbar sein könnte – würde die Autorin nicht immer wieder straucheln und statt Prototypen auszuleuchten ins Klischee abzudriften [Spoilerwarnung]: Natürlich ist Oscar, der sich doch zunächst so rau & rough und Gitanes-Rauch umwirbelt an seinem Whiskey festhält, eigentlich ein ganz Lieber, weil einsam und verloren, zumal er auch seiner schwulen Teenagerliebe nachtrauert (selbstverständlich ein Migrantenkind, wir erinnern uns, das macht alles gleich si délicieusement compliqué, non?), während Rebecca selbst in ihren dunkelsten Stunden noch funktionstüchtig ist, sobald die Kamera auf sie gerichtet wird, und noch dazu jederzeit herrlich fickbar das Bild der sexuell emanzipierten Frau aufrecht erhält, weswegen sie am Ende folgerichtig damit liebäugelt … nein, es ist mir zu doof, das hier zu wiederholen.
Despentes steht mit ihrem Kraweel-Kraweel auf der meiner Meinung nach richtigen Seite – etwas, was ich in dieser Form vermutlich nicht sagen würde über ZWISCHEN WELTEN von Juli Zeh und Simon Urban –, aber reicht das? Sehr gerne räume ich als Leser von geringem Verstand ein, dass ich das alles nicht verstanden habe, dass ich nicht empfänglich genug war, da mich Drogengeschichten immer eher langweilen, und ich das Kokettieren, das hier und da durchscheint, zu wenig einordnen konnte. (Zumal alle Autoren, mit denen ich so schlief in meiner wilden Jugendzeit, deutlich besser im Schuss waren als ihre französischen Pendants.) Aber bei aller Verneigung vor dem Werk und der Rolle der Autorin, macht es LIEBES ARSCHLOCH für mich leider, leider, LEIDER nicht zu einem besseren Buch.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Virginie Despentes: LIEBES ARSCHLOCH. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2023
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