Starke Momente, aber auch viel WTF für mich Leser von geringem Verstand
„Wann hast du gewusst, dass du tot bist? – Ich stelle dir diese Frage, von der ich weiß, dass du sie niemals beantworten kannst. Es ist jetzt zehn Jahre her, dass wir uns kennengelernt haben, sechs Jahre, dass wir zum letzten Mal miteinander gesprochen haben, vier Jahre, dass du gestorben bist, und ich schreibe dir dies aus Mexico City, in der Erfüllung einer schwerwiegenden Pflicht.“
Manche Kunstwerke erschließen sich, wenn man einfach davorsteht, bei anderen muss man näher herantreten, oder es braucht mehr Abstand und man macht unwillkürlich einen Schritt zurück. Daran muss ich denken, während ich das große WTF, dass ich beim Lesen immer wieder verspürt habe, in Einklang zu bringen versuche mit den starken Momenten, die sich auch finden im Roman von Lauren John Joseph, der es mir ganz und gar nicht einfach gemacht hat.
WO WIR UNS BERÜHREN ist … ja, was eigentlich? Eine Anrufung, ein intimes Gebet, ein donnerndes Requiem, eine Spurensuche und ein (Selbst-)Ermächtigungsversuch. Dabei ist die Grundidee denkbar einfach: JJ, Bühnenautorin und trans, blickt zurück auf die Zeit ihres Erwachsenwerdens zwischen London, San Francisco und New York, eine Zeit des Herantastens an die richtige Ausdrucksform, bestimmt durch die Herausforderung (und nachträgliche Glorifizierung) prekärer Lebensumstände – und die eine, große, schmerzensreiche und zum Scheitern verurteilte Liebe zum Fotografen Thomas James. Der ist vor vier Jahren bei einem Unfall gestorben; wird es JJ nun gelingen, ihn gehen zu lassen?
457 Seiten ist der Roman lang, und damit vermutlich (wer mich kennt, der weiß, wie selten ich das sage) 200 Seiten zu ausschweifend: Lauren John Joseph überfrachtet ihre Geschichte mit Einzelheit auf Momentaufnahme auf Empfindungschronik … und ist, während sie Wortwolke um Wortwolke zu einem großen Gemälde auftürmt, sorgsam darauf bedacht, ihr Publikum nie vergessen zu lassen, dass sie sich nicht nur auf einen „L’art, c‘est moi, Bitches!“ brüllenden Erzählstil versteht, sondern auch aus einem reichen Bildungsschatz schöpfen kann. Hier ein bisschen Joan Didion oder Bette Davis, dort die elegisch zerschmetterte Evelyn McHale, Penny Arcade hier, die Flugminen des zweiten Weltkriegs dort … und wenn selbst die Aufforderung, dass JJ den Hintern hochbekommen soll, nicht ohne einen Verweis auf Billy Elliott auskommt, dann ist das für viele Menschen sicher ein erquickliches Vergnügen, während es mich ermüdet.
Drollig muten indes die erotischen Szenen an, in denen das Sperma (ich zitiere) „spritzt wie ein barocker Springbrunnen“ und Sex mitunter mehr einem kubistischen Gemälde gleicht als dem Zusammentreffen zweier Menschen. Zumal es dies auch nicht ist: Körperlichkeit, beziehungsweise der Sex mit Thomas James, ist roh, ein Ringen um Dominanz und eine weitere Waffe, derer er sich bedient. Denn Thomas James ist … nun, sagen wir: kein Mr. Darcy. Zwar gesteht die Autorin ihm unerwartete Momente der Zartheit zu, aber vor allem ist er ruppig, ein durch Londons Kunstszene irrlichternder Giftzwerg, der sich nicht nur aus der aggressiven Lust an der Provokation für Rassismus begeistert. Fast wähnte ich Leser von geringem Verstand mich ob dieser Verklärung einer toxischen Beziehung in einer New-Adult-Romance, deren Trope dann vermutlich die intellektuelle Antwort auf „Grumpy meets Sunshine“ wäre.
Ich habe das Buch immer wieder zur Seite legen wollen, und wäre der in meiner Wahrnehmung widerwärtige Moment, in dem die Autorin ohne Notwendigkeit die Hinrichtung von Homosexuellen durch den IS selbstreferenziell nutzt (während sie als Trans-Frau die allermeiste Zeit recht unkommentiert durch diverse Szenarien treibt), nicht erst kurz vor Schluss gekommen, ich hätte es vermutlich getan. Stattdessen habe ich mich auf dem langen, langen Weg fast gegen meinen Willen immer wieder für Momentaufnahmen begeistert, die ohne großes Tamtam eindringlich sind. Und natürlich ist auch das queere Ensemble, das Lauren John Joseph um JJ aufstellt, ein Vergnügen – denn wenn sich beispielsweise drei beste FreundInnen gegenseitig mit Liza ansprechen, dann ist das auf kapriziöse Art charmant (auch wenn ich’s dann, unter der Wucht des gesamten Gedröhnes, prätentiös zu finden begann).
In England hat WO WIR UNS BERÜHREN für viel Begeisterung gesorgt, sicher auch wegen der Sprache von Lauren John Joseph, die Nikolaus Stingl vermutlich unter großer Herausforderung fließend ins Deutsche übertragen hat – ob er dabei den britischen Ton treffen konnte, vermag ich in Unkenntnis des Originals nicht zu sagen. So wenig, wie ich mir sicher bin, in welche Richtung nun mein Daumen zeigen soll: nach oben ganz sicher nicht, nach unten aber genau so wenig. Und so verharrt er nachschwingend irgendwo in der Mitte. Denn manches Kunstwerk entzieht sich auch manchem Betrachter.
***
Ich habe dieses Buch von einer Freundin, die beim Verlag arbeitet, geschenkt bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Lauren John Joseph: WO WIR UNS BERÜHREN. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. dtv, 2024
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