Nach ihrem großartigen Kurzgeschichtenband legt Jane Campbell einen Roman vor – und hätte das besser gelassen

„Von all den Erkenntnissen, die ich meinem langen und eher unbefriedigenden Leben abgewinnen konnte, ist die unverwüstlichste und beunruhigendste wohl die Promiskuität unserer Wahrnehmungen. Treulose Eleven sind unsere Augen, doch mehr noch […] sind es unsere Folgerungen aus dem, was wir mit ihnen wahrzunehmen glauben, unsere weitschweifenden Schlüsse und festen Überzeugungen, die bereitwillig mit jedem ins Bett gehen, jedem Gedanken, jedem Bild, nur um an nächsten Morgen zu schwören, das, was wir wahrgenommen hätten, sei wirklich so passiert. Die Dinge um uns herum sind, wie sie sind; was wir brauchen, sind neue Augen. Wir glauben, was wir sehen, doch noch bevor wir unseren Blick auf etwas lenken, entscheiden wir, was genau wir sehen werden. […] Der Motor all dieser Täuschungen? Unsere Gelüste. Unser unstillbarer Hunger. Unsere schauerlichsten Ängste.“

Zu den schönsten Überraschungen der letzten Buchjahre gehört KLEINE KRATZER, der Kurzgeschichtenband der damals schon über 70-jährigen britischen Autorin Jane Campbell: In 13 Miniaturdramen treten darin Frauenfiguren auf, die widerborstig sind, die (auf-)begehren, die kleine Triumphe feiern oder oft auch nicht. KLEINE KRATZER verdient jede Begeisterung – und natürlich macht die Kunstfertigkeit, die Campbell bei der kurzen Form zeigt, Lust auf die lange.

Leider war es für mich kein Vergnügen, BEI ALLER LIEBE zu lesen, den 219 Seiten umfassenden Roman, der in der fließenden Übersetzung von Bettina Abarbanell nun auf Deutsch vorliegt. Und wie immer, wenn ich versuche, mein Unverständnis für einen (von anderen bejubelten) Text zu ergründen, werde ich im Folgenden nicht ohne Spoiler auskommen.

Die Grundidee der Geschichte ist vielversprechend: Ein Professor mit dem Fachgebiet Altes Testament blickt im Angesicht des nahenden Endes auf einen fatalen Moment zurück –vor Jahrzehnten hat er den letzten Wunsch seiner Schwester nicht erfüllt und einen Brief selbst gelesen, statt ihn an den Empfänger zu überbringen. Und so weiß Malcom, was er seiner inzwischen erwachsenen Nichte Agnes, die nach dem Unfall verwaist bei den Großeltern aufwuchs, stets verschwiegen hat: Ihr Vater könnte noch leben, denn eventuell ist es nicht der Gatte ihrer Mutter, sondern jener Conrad Bradshaw, an den sie sich während der deutschen Bombenangriffe auf London in einer schicksalsschweren Nacht geklammert hat.

Erst jetzt, in der Abendstunde von Malcolms Lebens, scheint der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, um Agnes die Wahrheit zu sagen – und welche bessere Gelegenheit könnte es geben als die Hochzeit ihrer Tochter (wer nun denkt, „Also, da würden mir deutlich geeignetere einfallen“: JA).

Weniger ist oft mehr, Campbell möchte aber „Schicksalsbutter bei die Fisch geben“, und deswegen gehört zur erweiterten Familie von Agnes inzwischen auch … na? Genau: Conrad Bradshaw, der zusammen ist mit der Schwester der zweiten Frau von Agnes‘ Exmann (und nein, sie kommen nicht aus Middle Fritham oder North Cothelstone Hall). Weil das auch noch nicht genug zu sein scheint, handelt es sich bei ihm um eben jenen Psychologen, bei dem die junge Agnes Rat suchte, nachdem ihr Mann gewalttätig wurde (nur um nach der Therapie für einige Zeit zu ihm zurückzukehren, was sicher realistisch ist, aber trotzdem: WTF).

Conrad, Zeit seines Lebens unter dem Verlust seiner Mutter leidend, hat seine junge Patientin ebenfalls nie vergessen, zumal er sich auf seltsame, wenn auch zum Glück wenig genitalgetriebene Art, zu ihr hingezogen gefühlt hat.

Und nun also Vorhang auf für eine Hochzeit und diverse Schicksalsfälle: Agnes trifft auf dem verschwenderisch schönen Landsitz ihres Ex auf ihren geständnisbereiten Onkel, auf ihren Ex-Therapeuten und vor allem auf den Fotografen Freddie (was eine hübschere Alliteration ist als der Zuckerbäcker Zacharias); in diesen ist sie – im Rahmen ihrer eher auf Schiffsbruch ausgelegten Gefühlswelt – sehr, aber vermeintlich aussichtslos verliebt. Um sich Freddy ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen, hat Agnes ihn gemeinsam mit seiner Ehefrau eingeladen; er kommt allerdings ohne diese, und es folgt, was folgen muss …

… oder auch nicht, denn Freddie verschwindet schnell aus heillos überkonstruierten Geschichte, um Platz zu machen für andere Gefühlsumwuchtungen: Vater und Tochter finden zusammen, Onkel Malcolm stirbt im Off und wird posthum in einem Nebensatz als bisexuell geoutet, Agnes kehrt schließlich an jenen Strand zurück, an dem sie als kleines Mädchen ihre Mutter zum letzten Mal sah – und wird dort von der Flut überrascht. Und blubb. Und der Vorhang fällt.

Es passt gut, den Originaltitel INTERPRETATIONS OF LOVE in das vermeintlich gefälligere BEI ALLER LIEBE umzudeuten; wo das eine die Dramaturgie umschreibt, die einer Versuchsanordnung gleicht, deutet das andere bereits darauf hin, dass Gefühle hier immer mit einem zum Zornigen neigenden Fragezeichen einhergehen. Das alles ist von Campbell, die selbst als Psychoanalytikerin gearbeitet hat, sicher fundiert geplant, überzeugt mich aber leider wenig. Es gibt starke Szenen (die Bombennacht in London beispielsweise oder der Moment, in dem sich Conrads Gefühle für seine zweite Frau Bahn brechen), und während ich nun zwei Wochen, nachdem ich den hübschen Pappband zugeklappt habe, noch einmal durch das Buch blättere und die markierten Stellen lese, kann ich auch die sprachliche Eleganz der Autorin wertschätzen.

Diese macht auf mich einen apart-antiquierten und dabei durchaus schwungvollen Eindruck, und dem hätte Campbell meiner Meinung nach eine knackigere und im Idealfall weniger reißbrettartige Handlung entgegensetzen sollen. Hinzu kommt, dass ich trotz der Sympathie, die ich für Malcom und Agnes empfand, alle Protagonisten als Spielfiguren empfunden habe, denen die Autorin Sätze in den Mund legen konnte wie „Aber diese erfundenen Dinge, Mum, bringen dich der Wahrheit womöglich näher als irgendwelche Tatsachen, die du ausgraben könntest“ oder „Auf einer solchen Eben der Intensität können wir nicht dauerhaft leben“.

Katharina Döbler hat BEI ALLER LIEBE im Deutschlandfunk Kultur gefeiert – ich empfehle sehr, den Beitrag anzuhören – und sich besonders an der britischen Art des Erzählens erfreut, gekennzeichnet durch die Zugewandtheit an die Figuren, in der immer ein gewisser Sarkasmus mitschwingt; für sie hat Jane Campbell nichts Geringeres geschrieben als das beste Buch dieses Sommers, der „Psychoanalyse in Literatur überführt“. Ich verstehe, was diese Kritikerin meint. Aber ich kann es leider nicht (nach)empfinden … und finde das sehr schade.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Jane Campbell: BEI ALLER LIEBE. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Kjona Verlag, 2024