Evan Tepests Roman gibt mir Fragen auf, aber nicht solche, auf die ich positive Antworten habe

„Alex stellte sich die Mutter vor, klein, dunkelhaarig und hart. Ein Kind, das alles besser wissen musste, weil es eine Wand aus Wissen zwischen sich und der Welt brauchte. Das so eine Sensibilität hütete, bis es sie selbst fast vergessen hatte.“

Eigentlich will die junge Schriftstellerin Alex ihre Mutter nicht besuchen, weil sie sich entfremdet fühlt von dieser Frau, die in ihrem niederrheinischen Luxushaus mit Pool und Zweitmann klein- bis großbürgeridyllt – aber da ihr zweiter Roman gerade reihum Absagen kassiert, soll sie ein Essay beisteuern für die Anthologie SCHREIB DEN NAMEN DEINER MUTTER. Und Recherche vor Ort, kann es etwas Besseres geben? Vermutlich schon. Denn während Alex ihre Mutter und Großmutter besucht, der Asche ihres Großvaters beim Verwehen zusieht, an ihrem vom Leben herausgeforderten Halbbruder denkt und möglicherweise dafür sorgt, dass ihre ehemalige Kunstlehrerin sich verliebt, fühlt sie sich ge- und befangen … findet aber

( ) dadurch
( ) darin
( ) trotz allem
(Zutreffendes bitte ankreuzen)

den Mut, einen weiteren Aspekt ihrer Queerness zu leben.

Evan Tepest legt nach dem vielgerühmten (und von mir nicht gelesenen) Essayband POWER BOTTOM nun einen Roman vor, der sofort neugierig macht: großartiger Titel, starker Einband, knackiges Thema und ein lakonischer Stil, in dem man mit einem glücklichen Seufzen versinken kann. SCHREIB DEN NAMEN DEINER MUTTER ist intelligent, oft humorvoll (schon die beiden beschriebenen bisherigen Beiträge für die Anthologie haben mich jubilieren lassen), stimmungsreich … und „it puts the FUN in dysFUNctional“. Dass man aber nach den im fünften Gang verschlungenen 189 Seiten versucht ist, sofort noch einmal von vorne zu beginnen, liegt aber leider nicht nur an den vielen starken Momenten, den gelungenen Essayeinschüben und dem bereits gerühmten Erzählstil, sondern auch an einem latenten WTF.

Die Einteilung des Textes in drei Abschnitte spielt auf das Gemälde „Who’s afraid of Red, Yellow and Blue“ des amerikanischen Malers Barnett Newman an, einem abstrakten Expressionisten, bei dem ein übermächtig erscheinendes Rot den Bildraum dominiert und so das Blau und Gelb an den Rand drängt; man kann der kraftvollen, aggressiven Farben kaum entgehen, selbst wenn man es wollte, so wie auch Alex keine Möglichkeit zu haben scheint, den vielschichtigen Gefühlen auszuweichen, die sie für jene Frau hegt, die möglicherweise nicht dafür geschaffen war, Kinder aufzuziehen.

So eindeutig sowohl das reale Gemälde als auch das im Roman verwendete Bild sind, so vage bleibt anderes: Hat Ruth ihre Tochter Franzi nach einem Unfall wirklich nicht im Krankenhaus besucht, gab es Gewalt in der Familie, physische oder psychische, oder „nur“ Unvermögen? Ist es Misshandlung, wenn ein Kind vor dem Teller mit ungeliebtem Essen sitzen bleiben muss (wer mich nun einen alten weißen Mann schimpfen möchte, ja nun, Jahrgang 1970, it is what it is)? Wird die

( ) Überforderung
( ) Kaltherzigkeit
(ihr wisst schon, ankreuzen)

einer Mutter zwangsläufig zur Waffe, oder ist es die Klinge, die später gegen sie gewendet wird (und wäre der Roman dadurch möglicherweise gar ein Entlastungsbuch für Frauen, die sich in einer Rolle wiederfinden, für die sie sich nie vollumfänglich beworben haben)?

Natürlich leben viele Geschichten von den Leerstellen, vom Raum zwischen dem Konkreten, den wir Lesenden selbst füllen dürfen, können und müssen … was nicht notwendigerweise die richtige Reihenfolge dieser Verantwortungsverlagerung an das Publikum ist. Bei SCHREIB DEN NAMEN DEINER MUTTER hatte ich zunehmend den Eindruck, dass es hier nicht nur das im Rückseitentext des Buchs geraunte „Unausgesprochene“ gibt, sondern (Handlungs-)Lücken, deren Summe keine Bereicherung darstellt. So kommt auch der Wechsel von Alex‘ Pronomen – zumindest für mich Leser von geringem Verstand – recht unvermittelt und nimmt mir den Einblick (ja, zugegeben, den emo-voyeuristischen) in das, was ich persönlich hochspannend gefunden hätte: Wie fühlt er sich an, der Weg vom einen Coming out zum anderen?

Dass der bereits erwähnte Werbetext aus unerfindlichen Gründen den dramaturgischen Höhepunkt des Romans vorwegnimmt, ist so irritierend wie die Symbolik holzhammerig. Oder bin ich der tumbe Schmock, habe ich mich (mitgerissen vom Erzählfluss) nicht genug konzentriert, Feinheiten übersehen? Vielleicht hat das Lektorat nicht genügend Überarbeitungsanreize gestellt, vermutlich wollte Evan Tepest das alles genau so schreiben; schade finde ich es so wie so … erinnere mich aber selbst streng daran, dass Autor*innen nie die Erfüllungsgehilfen des Publikums sein müssen.

Von daher: SCHREIB DEN NAMEN DEINER MUTTER hat mich kurzweilig unterhalten, obwohl das große Raderazonk, das ich mir aufgrund der Geschichte und dem Talent gewünscht hatte, sich leider nicht einstellen wollte, trotz immer wieder aufflammender Begeisterung.

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Evan Tepest: SCHREIB DEN NAMEN DEINER MUTTER. Piper Verlag, 2024