Als ich das Buch im Antiquariat sah, wollte ich es lesen – ohne genau zu wissen, warum

„Angeblich müssen Vögel einfach singen, wenn man sie in die Sonne hinausstellt – nun, an jenem Sonntag war schönes Wetter. […] Wie ich am Schaufenster der Tierhandlung oben an der Camden High Street vorbeikam und einen Moment stehenblieb, um den Kanarienvogelmännchen zuzuschauen, die in der Sonne regelrecht durchdrehten. Sich ihre winzige hellgelbe Seele aus dem Leib sangen, die heißen kleinen Schnäbel weit aufgerissen, völlig meschugge – und wegen der Glasscheibe hörte man keinen Ton. […] Ein bisschen wie bei mir, mit all den lautstarken Auseinandersetzungen und Geständnissen in meinem Kopf.“

Warum man 1999 bei btb erpicht war, den britischen Umschlag von MR. CLIVE UND MR. PAGE nachzubauen, obwohl das eingeklinkte Bildmotiv nur unscharf vorlag, bleibt so unverständlich, wie es der Roman von Neil Bartlett für mich war.

Dabei ist die Geschichte interessant: 1923 kreuzen sich die Wege zweier Männer, die aus unterschiedlichen Welten stammen, sich aber durch eine Laune der Natur (beziehungsweise des Autors) gleichen wie ein Ei dem anderen. Und so treffen vor dem Türkischen Bad, in das Männer nicht zur zum Schwitzen gingen, Mr. Page und Mr. Clive aufeinander. Der eine arbeitet in der Finanzabteilung des Kaufhauses Selfridges und führt ein bescheidendes Leben, während Mr. Clive in einer Stadtvilla seinen 21. Geburtstag herbeisehnt, um endlich über sein beträchtliches Erbe verfügen zu können. Aber warum schreibt Mr. Page die Erinnerungen an diese Begegnung 1956 nieder, welche Rolle spielt das 1886 erbaute Haus … und was hat das alles mit dem Tod von Rock Hudson 1985 zu tun?

Dem britischen Dramatiker Neil Bartlett ist laut der Zeitung New Statesman „eine zeitlose Analyse sozialer Normen und Zwänge“ gelungen – dem kann ich eher zustimmen als dem Jubel von Ruth Rendell, die der Meinung ist, dass man den Roman bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen wird. Bartlett erzählt von einer Zeit, in der Homosexualität unter Strafe stand, in der Blicke oft die einzige Möglichkeit waren, Gleichgesinnte zu finden. Es gelingt ihm, die Stimmung dieser Epoche einzufangen, durch hingeworfene Bemerkungen von Kolleginnen, eingestreute Ausschnitte aus fiktiven Büchern, dezentem Namedropping und der verstohlen gehauchten Erinnerung an Männer, die verhaftet wurden; von zeitloser Schrecklichkeit ist dabei, dass sich der Wohlhabende Dinge leisten und oft auch erlauben konnten, die dem „kleinen Mann“ vorbehalten blieben. Immer wieder kommt die Handlung in Schwung … und immer wieder verirrt Bartlett sich beim Versuch, Literatur zu schreiben, in Metaphorik und dräuender Empfindsamkeit.

Nun gibt es sicher Leser, die begeistert in die Hände klatschen, wenn es Überlagerungen gibt, wenn nicht sicher ist, wo die Erinnerung aufhört und die Fantasie beginnt … und wenn einer der Polizisten, denen Page 1956 seine Geschichte zu gestehen scheint, auf den gleichen Namen hört wie der Mitarbeiter des Badehauses, in dem sich ein zu diesem Zeitpunkt 31-jähriger Hollywoodstar auf einen Flirt mit einem unauffälligen Briten jenseits der 50 eingelassen haben soll; mir hat das alles keine Freude bereitet, leider.

Wer sich nun fragt, warum ich nicht einfach den Mantel des Schweigens decke über die 255 von Kathrin Razum übersetzten Seiten: Nun, zum einen habe ich mir für mein öffentliches Lesetagebuch Lückenlosigkeit vorgenommen, und zum anderen, weil mich das Niederschreiben meiner Gedanken zwingt, noch einmal genauer hinzuschauen … und zu dem Schluss zu kommen, dass MR. CLIVE UND MR. PAGE ein mutiges Buch war. Als Bartlett es 1996 veröffentlichte, war es gerade 10 Jahre her, dass die Thatcher-Regierung die „Clause 28“ vorstellte (und 1988 einführte), die es Gemeinden, Schulen und Kommunalbehörden verbot, „Homosexualität zu fördern“ – also ohne negative Konnotation aufzuklären oder sich um Akzeptanz zu bemühen. (No-FUN FACT: Der damalige bayerische Innenstaatsekretär Peter Gauweiler forderte 1988 ein „Programm gegen die nationale Dekadenz, wie es Margaret Thatcher formuliert hat“.)

Es wurde viel protestiert gegen dieses Gesetz (das erst 2003 außer Kraft gesetzt wurde), unter anderem 1989 durch Boy George mit seinem Lied „No Clause 28“, und in diesen Chor stimmt auch Bartlett ein. Das macht das Buch für mich Leser von geringem Verstand nicht „besser“, zeigt aber seine Bedeutung – und mahnt aus dem verstaubten Backlist-Regal, Position einzunehmen gegenüber allen Anfängen und Fortschreitungen, die darauf zielen, unsere Freiheit einzuschränken. Außerdem: Representation matters. Auch dann, wenn sie einem nicht gefällt.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Neil Bartlett: MR. CLIVE UND MR. PAGE. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. btb Verlag, 1999