Ein Reigen der besonderen Art: In dieser spannenden und abwechslungsreichen Anthologie schreiben 20 Frauen über Auf- und Umbrüche

„Ich wünsche mir inspirierende, verstörende, aufrüttelnde und ermutigende Texte, die von Frauen erzählen, die sich aus Konventionen befreien, um näher bei sich zu sein. Geschichten, die zeigen, wie solche Entscheidungen zustande kommen und dass ein Nachdenken über Veränderung zu jeder Lebenszeit möglich ist. Ich wünsche mir Brüche und Mut, Verzweiflung und die Überwindung, aber auch Geschichten, in denen Versuche, eine neue Richtung zu finden, ganz anders enden als gedacht oder erhofft.“

Ein Mensch wurde geboren, er lebte, er starb: Fast meint man, ihn gekannt zu haben. – Diesen Spruch habe ich vor Jahrzehnten in einem Sponti-Spruch-Buch gelesen, und vielleicht liegt die Wucht der Aussage, die man doch eigentlich schnodderig dahinwitzeln soll, auch darin, dass man sie in jedem Lebensjahrzehnt anders interpretiert. Zumal man irgendwann nicht nur hofft, sondern auch begreift (manchmal schmerzlich, noch dazu), dass es nur die halbe Wahrheit ist. Das Leben verläuft in den seltensten Fällen geradlinig; Leben, das heißt oft Abbiegen oder Stolpern, Fallen und Aufstehen und Weitergehen.

20 GESCHICHTEN ÜBER WENDEPUNKTE DES LEBENS ist der Untertitel der Anthologie UND ICH, und der Gedankenstrich, der nach dem ICH steht (und den ich hier weglasse, weil’s doch verwirrend zu lesen wäre), gehört eindeutig zur Gesamtausgabe. Noch dazu ist er zutreffender als das Wort Wendepunkte; Schlüsselmomente fasst es weiter und meiner Meinung nach auch oft besser.

Körperlicher Schmerz kann so ein Schlüsselmoment sein, oder der Anblick einer alten Frau, die eigenhändig die Wurzeln eines Baums aus dem Boden birgt; der Kauf von entkoffeiniertem Kaffeepulver, das Sammeln von Sätzen; ein Behördentermin, die Erkenntnis, dass die eigenen Kinder schuldlos zu Staatsfeinden erklärt wurden; der Moment, in dem man versteht, dass man ein Opfer ist, es aber nicht bleiben muss.

Ist das letztgenannte möglicherweise schon ein Wendepunkt? Von denen gibt es natürlich auch viele auf den 251 Seiten (nebst Viten und etwas aufdringlich im Text markierten Fußnoten) zu entdecken: Wenn man erkennt, im falschen Körper geboren zu sein, wenn man von einem Leben in ein anderes verpflanzt wird, wenn man – ganz profan, und dann auch wieder nicht – auf dem Fußboden eines Freundes liegt und an die Decke starrt.

19 Autorinnen sind der Einladung der Herausgeberin – und selbst Beiträgerin – Maria-Christina Piwowarski gefolgt, aus der auch das einleitende Zitat dieser Rezension stammt, und sie alle nähern sich der Herausforderung auf unterschiedliche Art. Isabel Bogdan etwa schreibt einen Brief an ihr zukünftiges Ich, die wunderbare Simone Scharbert ringt auf (und ja, hier lohnt es, das Adjektiv zu wiederholen) wunderbare Art mit anderen Texten, um ihren eigenen zu weben, und Gabriele von Arnim begeistert mit einer der schwungvollsten Kurzgeschichten, die ich seit langem gelesen habe.

Anders als die Grande Dame der Sammlung spielen viele andere Autorinnen mit der Autofiktion: Das lädt immer dazu ein, sich die Frage zu stellen, wo die Grenze verläuft zwischen dem, was wirklich erlebt wurde, und dem, was erfunden ist (wobei auch Fiktion in den besten Fällen etwas sein kann, was erlebt wird). Trotzdem ist jeder Text mehr als eine Selbstdarstellung – und nie eine Selbstentblößung, um den Voyeurismus eines intellektuellen Publikums zu befriedigen.

UND ICH (mit öffnendem Gedankenstrich) ist – was nun genau? Eine Anthologie, sicher; ein Schmuckkästchen, in dem man mehr als eine Handvoll Glitzerndes finden wird? Auch das. Und möglicherweise bietet es sich sogar an, die Forrest Gump’sche Pralinenschachtel zu bemühen: In UND ICH weiß man nie, was man bekommt. Es finden sich Gebrauchstexte (und ich benutze diesen Begriff voller Hochachtung), die uns Lesende ebenso barrierefrei in ihren Bann ziehen wie einige der literarischeren Formen, es gibt Lyrik, Essayistisches, den bereits erwähnte Brief. Liegt die sprichwörtliche Würze in der Kürze? Einige Texte hätte ich mir deutlich länger gewünscht, bei manchen hoffe ich, die Autorinnen nehmen sie als Sprungbrett, um uns eine längere Form zu schenken.

Habe ich alles verstanden? Nein. Hat mich alles mit Freude erfüllt? Nein. Habe ich, obwohl doch „nur“ ein Mann und Leser von geringem Verstand, immer wieder gedacht: Was für ein Buch – und was für ein Glück, dass ich es lesen kann? Ja! Denn so, wie eine der Umschlagmotivgrazien den Blick durchs Fern- oder Opernglas wirft, um das zu sehen, was ihren Augen sonst verborgen bleiben würde, lädt UND ICH (Gedankenstrich!) uns 20 Mal ein, in uns selbst der Resonanz dessen nachzuspüren, was die Autorinnen in vielstimmigen Solos zum Klingen bringen.

Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Maria-Christina Piworwarski (Hrsg.): UND ICH – 20 Geschichten über Wendepunkte des Lebens. Mit Texten von Gabriele von Arnim, Zsuzsa Bánk, Marica Bodrožić, Isabel Bogdan, Ann Cotten, Mareike Fallwickl, Julia Friese, Olga Grjasnowa, Claudia Hamm, Stefanie Jaksch, Rasha Khayat, Christine Koschmieder, Jarka Kubsova, Daria Kinga Majewski, Maria-Christina Piwowarski, Judith Poznan, Slata Roschal, Caca Savić, Clara Schaksmeier und Simone Scharbert. Park X Ullstein Verlag, 2024